Lullaby (DE)
sie mit ihrem rosa Schuh in den Matsch. Sie sagt: »Aus demselben Grund, warum ich ihn nicht umgebracht habe. Er konnte manchmal schon sehr liebenswert sein.«
Neben der Anzeige ist unter dem Schlamm das Foto eines weiteren toten Fotomodells zu sehen.
Helen blickt das Riesenrad hinauf, ein Reifen aus rot und weiß leuchtenden Neonröhren und schwankenden Sitzen voller Leute, und sagt: »Sieht machbar aus.«
Ein Mann bringt das Rad zum Stehen; die Sitze schaukeln aus, und Helen und ich nehmen auf dem roten Plastikpolster Platz. Der Mann lässt den Sicherungsbügel über unseren Schößen einrasten, tritt zurück und legt einen Hebel um, und der große Dieselmotor springt an. Das Riesenrad ruckt an, als wollte es rückwärts rollen, und Helen und ich steigen in die Dunkelheit auf.
Auf halbem Weg in die Nacht bleibt das Rad abrupt stehen. Unser Sitz schaukelt, und Helen hält krampfhaft den Bügel fest. Ein Diamantsolitär rutscht ihr vom Finger und stürzt durch die Streben und Lichter, durch die Farben und Gesichter mitten ins Getriebe der Maschine.
Helen sieht ihm nach und sagt: »Tja, das waren ungefähr fünfunddreißigtausend Dollar.«
Ich sage, vielleicht sei er ganz geblieben. Ist ja ein Diamant.
Und Helen sagt, das ist es ja grade. Edelsteine sind das Härteste, was es auf der Erde gibt, aber trotzdem zerbrechen sie. Starken Druck und Belastung können sie aushalten, aber ein plötzlicher, kräftiger Schlag kann sie zu Staub zertrümmern.
Mona kommt über die mit Sägemehl bestreuten Planken angerannt, bleibt unter uns stehen und winkt mit beiden Händen. Sie hüpft auf der Stelle und schreit: »Huuuhu! Helen!«
Das Rad fährt ruckend wieder an. Die Sitzfläche neigt sich, Helens Handtasche rutscht ab, aber sie erwischt sie gerade noch. Der graue Stein ist noch darin. Das Geschenk von Oysters Hexenparty. Statt der Handtasche segelt der Terminkalender davon, flattert aufgeschlagen durch die Luft und landet im Sägemehl. Mona läuft hin und hebt ihn auf.
Sie schlägt sich das Buch an den Oberschenkel und klopft das Sägemehl ab, dann hält sie es hoch und schwenkt es, um zu zeigen, dass nichts damit passiert ist.
Helen sagt: »Gott sei Dank, dass wir Mona haben.«
Ich sage, Mona hat gesagt, du willst mich umbringen.
Und Helen sagt: »Mir hat sie gesagt, dass du mich umbringen willst.«
Wir sehen uns an.
Ich sage, Gott sei Dank, dass wir Mona haben.
Und Helen sagt: »Kaufst du mir einen gezuckerten Maiskolben?«
Auf dem Boden, immer weiter von uns weg, blättert Mona in dem Terminkalender herum. Tag für Tag sind dort die Namen von Helens Zielpersonen aus der Politik verzeichnet.
Blick nach oben, weg von den bunten Lichtern und in den nächtlichen Himmel empor: Wir nähern uns den Sternen. Mona hat einmal gesagt, Sterne seien das Beste am Leben. Andererseits, dort, wohin die Menschen kommen, wenn sie gestorben sind, können sie die Sterne nicht sehen.
Man denke an den tiefen Weltraum, die unglaubliche Kälte und Stille. Der Himmel, in dem die Abwesenheit von Geräuschen hinreichender Lohn ist.
Ich sage Helen, dass ich nach Hause fahren und etwas erledigen muss. Und zwar möglichst bald, ehe es noch schlimmer wird.
Die toten Fotomodelle. Nash. Die Polizisten. Das alles. Wie er an das Merzlied gekommen ist, kann ich mir nicht erklären.
Wir steigen höher, noch weiter weg von den Gerüchen, vom Lärm des Dieselmotors. Wir steigen in die Stille und Kälte hinauf. Mona mit dem Terminkalender wird immer kleiner. Die Menschenmassen, ihr Geld, ihre Ellbogen und Cowboystiefel, alles wird kleiner. Die Imbissbuden und Toilettenwagen werden kleiner. Das Geschrei, die Rockmusik: kleiner.
Oben angekommen, bleiben wir mit einem Ruck stehen. Unser Sitz schaukelt langsam aus. In dieser Höhe zerzaust der Wind Helens rosa Ballonfrisur und kämmt sie nach hinten. Die Neonlichter, der Matsch und Schmutz: Aus solcher Entfernung sieht das alles vollkommen aus. Vollkommen, gesund und glücklich. Die Musik ist nur ein dumpfes Pochen.
So muss Gott uns sehen.
Helen blickt auf die Karusselle, die kreisenden Farben und Schreie hinunter, und sagt: »Ich bin froh, dass du mir auf die Spur gekommen bist. Ich glaube, ich habe schon lange darauf gewartet, dass das jemand tut.« Sie sagt: »Ich bin froh, dass du es bist.«
Ihr Leben ist doch gar nicht so übel, sage ich. Sie hat den vielen Schmuck. Sie hat Patrick.
»Trotzdem«, sagt sie, »ist es gut, einen Menschen zu haben, der alles von einem weiß, alle Geheimnisse
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