Lullaby (DE)
kennt.«
Ihr Kostüm ist hellblau, aber es ist nicht das Blau normaler Rotkehlcheneier. Es ist das Blau von Rotkehlcheneiern, die man auf der Erde findet und von denen man nicht weiß, ob noch ein Vogel daraus schlüpfen wird. Und dann schlüpft doch einer, und man weiß nicht, was man damit anfangen soll.
Helen legt ihre Hand auf meine auf dem Sicherungsbügel und sagt: »Mr. Streator, hast du eigentlich einen Vornamen?«
Carl.
Ich sage: Carl. Carl Streator.
Ich frage, warum sie mich als in mittlerem Alter beschrieben hat.
Und Helen lacht und sagt: »Weil du es bist. Genau wie ich.«
Das Rad ruckt wieder an, und wir sinken hinunter.
Und ich sage: ihre Augen. Ich sage: Sie sind blau.
Und das ist mein Leben.
Unten entriegelt der Schausteller den Sicherungsbügel, und ich reiche Helen zum Aussteigen die Hand. Das Sägemehl ist locker und weich, und wir humpeln und stolpern Arm in Arm durchs Gedränge. Als wir Mona erreichen, liest sie immer noch in dem Terminkalender.
»Zeit für einen Maiskolben«, sagt Helen. »Carl holt uns welche.«
Und mit dem offenen Buch in Händen blickt Mona auf. Ihre Lippen formen ein kleines o, und sie zwinkert einmal, zweimal, dreimal mit den Augen. Sie seufzt und sagt: »Wir suchen doch dieses Grimoire, oder?« Sie sagt: »Ich glaub, ich hab’s grade gefunden.«
34
Manche Hexen schreiben ihre Sprüche mit Runen, geheimen verschlüsselten Symbolen. Mona zufolge schreiben manche Hexen rückwärts, sodass der Spruch nur im Spiegel gelesen werden kann. Sie schreiben in Spiralen, die in der Blattmitte beginnen und sich nach außen winden. Manche schreiben wie auf altgriechischen Schadenzaubertäfelchen, die erste Zeile von links nach rechts, die zweite von rechts nach links und so weiter. Das nennt man Bustrophedon, weil es das Hin und Her eines vor den Pflug gespannten Ochsen nachahmt. Manche ahmen auch eine Schlange nach, sagt Mona, und schreiben die Zeilen so, dass sie sich in verschiedene Richtungen verzweigen.
Die einzige Regel sei die, dass ein Spruch irgendwie verdreht geschrieben werden müsse. Je undeutlicher, je verdrehter, desto mächtiger der Zauberspruch. Für Hexen sind auch die Verdrehungen selbst zauberkräftig. Sie zeichnen oder schnitzen den Zauberergott Hephaistos mit verdrehten Beinen.
Je verdrehter der Spruch, desto mehr verdreht und hemmt er das Opfer. Verwirrt es. Lenkt es ab. Es gerät ins Taumeln. Ihm wird schwindlig. Es kann sich nicht konzentrieren.
Dasselbe wie bei Big Brother mit seinen ewigen Pauken und Trompeten.
Auf dem Parkplatz, auf dem Schotter zwischen dem Jahrmarkt und Helens Auto, steht Mona und hält den Terminkalender so, dass die Kirmeslichter genau durch eine Seite fallen. Zunächst sind da nur die Notizen, die Helen sich für diesen Tag gemacht hat. Der Name »Captain Antonio Cappelle« und eine Liste mit Maklerterminen. Dann erkennt man ein schwaches Muster im Papier, rote Wörter, gelbe Sätze, blaue Absätze, je nachdem, welches farbige Licht hinter dem Blatt gerade aufleuchtet.
»Unsichtbare Tinte«, sagt Mona, ohne das Buch sinken zu lassen. Dünn wie ein Wasserzeichen, Geisterschrift.
»Drauf gekommen bin ich durch den Einband«, sagt Mona.
Das Buch ist in glänzendes dunkelrotes Leder gebunden, das von der vielen Benutzung beinahe schwarz geworden ist.
»Das ist Menschenhaut«, sagt Mona.
Es hat in Basil Frankies Haus gelegen, sagt Helen. Sah aus wie ein hübsches altes Buch, ein leeres Buch. Sie hat es zusammen mit Frankies Anwesen erworben. Auf dem Einband ist ein schwarzer Stern mit fünf Zacken.
»Ein Pentagramm«, sagt Mona. »Und bevor es ein Buch war, hat jemand das als Tätowierung getragen. Dieser kleine Hubbel«, sagt sie und streicht über eine Stelle auf dem Buchrücken, »das ist eine Brustwarze.«
Mona schließt das Buch, hält es Helen hin und sagt: »Fühl mal.« Sie sagt: »Das ist älter als alt.«
Und Helen öffnet die Handtasche und nimmt die kleinen weißen Handschuhe mit dem Knopf an der Stulpe heraus. Sie sagt: »Nein, halt du es mal.«
Mona schlägt das Buch wieder auf und blättert darin herum. Sie sagt: »Wenn ich nur wüsste, was als Tinte verwendet worden ist, dann könnte ich es lesen.«
Wenn es Ammoniak oder Essig ist, sagt sie, muss man Rotkohl kochen und etwas von dem Sud aufs Papier tupfen, dann wird die Schrift violett.
Wenn es Sperma ist, kann man es bei Neonlicht lesen.
Ich sage, so was gibt’s? Kalter Bauer als Tinte?
Und Mona sagt: »Nur bei den mächtigsten
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