Luna Atra - Der schwarze Mond (German Edition)
die Erkenntnis in mein Innerstes, was diese Szene bedeutete, der ich soeben
beigewohnt hatte.
Es
hatte begonnen, hier und jetzt. Die Menschen fingen bereits an, sich
gegenseitig zu vernichten, getrieben von der Macht ihres eigenen Hasses und der
über Generationen hinweg aufgestauten Wut allem Lebenden gegenüber, die nun
hervorbrach und alles, was sich ihr in den Weg stellte, einfach mit sich
spülte. Georg hatte gesagt, dass er nicht gewollt hatte, dass seine Freunde
starben, und ich glaubte ihm. Es war das Zittern in der Realität gewesen, das
ihn zu dieser abartigen Tat getrieben, der gesplitterte Knochen des Universums,
der sich in sein Hirn gebohrt hatte.
Dies
stellte sich mir auf einer tief liegenden Ebene meines Bewusstseins klar und
deutlich dar, auf jener Ebene, die sich noch einen Funken Menschlichkeit
bewahrt hatte. Was meine Handlungen im Augenblick jedoch größtenteils
dominierte, setzte sich zusammen aus animalischen Instinkten und einer fremden,
leitenden Macht, die mich fest in ihrer Hand hielt und nun kraftvoll gen Osten
stieß.
Während ich dem Ruf
in meinem Inneren folgte, zog sich der Himmel um mich herum zusammen, und
dunkle, schwere Wolken hüllten mich in beinahe vollständige Finsternis. Unter
mir kam Hansens Haus in Sicht, ein Bild, das wie ein Blitz in meinen Verstand
einschlug und mich dazu veranlasste, mich in einer todesmutigen Spirale gen
Erdboden zu schrauben. Nur wenige Meter über dem aus verstreuten
Pflastersteinen bestehenden Weg, der wie ein Messer durch Hansens akribisch
gepflegten Vorgarten schnitt, verlangsamte ich mein Tempo mit ein, zwei
kraftvollen Schlägen meiner Schwingen und setzte behutsam auf den Steinen auf.
Es wird Zeit. Nimm Gestalt an.
Ich
wusste nicht, was die Stimme damit meinte, bis ich ihren Befehl ausführte. Ein
unangenehm prickelndes Gefühl erwachte in meinen Zehen und Fingern, um sich
bald darauf in meinem gesamten Körper auszubreiten. Innerhalb weniger
Sekundenbruchteile war es zu einem schmerzhaften Reißen angewachsen, das an
meiner Haut, meinen Muskeln, meinen Sehnen zerrte und sie qualvoll straffte.
Wahrscheinlich hätte ich aufgeschrien, wären meine Lungen und meine Kehle nicht
derselben, gnadenlosen Veränderung unterworfen gewesen.
Vielleicht
hatte ich für einen winzigen Moment das Bewusstsein verloren, vielleicht
dauerte die Prozedur auch einfach nur weit kürzer, als ich angesichts des
Schmerzes erwartet hätte. Gleichwie, das Nächste, was ich wahrnahm, war, dass
ich von zwei ungewöhnlich stämmigen Menschenbeinen auf den plötzlich
schwindelerregend weit entfernten Gartenweg hinuntersah.
Verwundert
hob ich meine zurückgewonnenen Arme und betrachtete meine gespreizten Finger,
wendete meine Hände vor dem Gesicht.
Es ist nur beim ersten Mal so schmerzvoll ,
sagte die Stimme. Du wirst das bald meisterhaft beherrschen.
Nun,
da mein Gehirn nicht mehr die Ausmaße einer Walnuss hatte, konnte ich mich zum
ersten Mal bewusst auf die Worte hinter meiner Stirn konzentrieren.
»Ich
weiß, wer du bist«, sagte ich halblaut. »Und wenn du willst, dass ich dir und
deinen Schergen vertraue, tätest du wohl besser daran, mir nicht durchs Hirn zu
spuken oder mich gegen meinen Willen in Geflügel zu verwandeln. Ich habe Andreas
längst zugesagt, was willst du also von mir?«
Die
Stimme lachte leise. Du bist erfrischend naiv, Laura. Denkst du tatsächlich,
ich überlasse eine so bedeutungsvolle Aufgabe der Willkür eines verstockten Teenagers?
Diese Sache ist viel zu wichtig, als dass wir uns auch nur den kleinsten Fehler
erlauben könnten. Und ich habe dich lange genug beobachtet, um zu wissen, dass
du nur allzu anfällig für Fehler bist.
»Du
bist widerlich«, flüsterte ich. »Ich bereue es längst, mich auf diese
verfluchte Aufgabe eingelassen zu haben.«
Was ein vortrefflicher Beweis für deine Wankelmütigkeit ist.
Darauf
sagte ich nichts. Der kleine, unsichtbare Mensch, der es sich zwischen meinen
Innereien bequem gemacht hatte, betätigte einen Hebel in meinem Körper und
zwang mich dazu, voranzuschreiten. Es war ein abscheuliches Gefühl, nicht Herr
der eigenen Glieder zu sein, und probeweise testete ich die Fesseln aus, die
man um mein Bewusstsein gelegt hatte. Sie waren straff gespannt und unzerreißbar.
Wie ein Pferd am Zügel führte Er mich voran, ließ mir mal mehr und mal
weniger Raum, aber ich wusste, sobald ich versuchen würde, meinen Reiter abzuwerfen,
würde er mir schmerzhaft die Sporen geben.
Mein
Magen verkrampfte
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