Luna, Seelengefährtin - mein Hund, das Leben und der Sinn des Seins
vielleicht war es auch nur der Blick durch das Schlüsselloch. Ich bedauerte es, diese Einsichten zurücklassen zu müssen, wenn ich in Harmonie mit meinen Aufgaben und meiner Umwelt weiterleben wollte. Gerne hätte ich die Verbindung aufrechterhalten – und mit ihr die Gewissheit, dass Tod und Angst nicht zusammengehören müssen. Sterben müssen wir alle, Angst haben nicht. Dies erkannte ich mit einer verblüffenden Sicherheit, und gleichzeitig wusste ich, dass ich diese verlieren müsste, weil sie Bedingung des Menschseins auf der anderen, auf meiner Seite ist.
Genauso geschah es. Ich verlor, nach und nach, die Gewissheit über die Existenz des anderen Raumes. Was blieb, war das Bild der Pforte und die Erinnerung an die Gewissheit, nicht jedoch das Wissen selbst. Die Tür fiel ins Schloss, das zuweilen für Sekundenbruchteile erhellte Schlüsselloch wurde dunkel, immer seltener wehte etwas herüber. So selten, dass ich mich heute frage, ob ich es mir einbilde – was mir zeigt, wie fest ich im Hier, manchmal sogar im Jetzt bin.
Wird mir diese Verankerung eines Tages im Weg stehen, sobald mein eigener Abschied anklopft? Ich wünsche mir, dass ich die Heringe leicht lösen kann, wenn ich meine Zelte im Diesseits abbreche, und mich dann nicht nur erinnere, sondern es auch fühlen werde, dass es eine Tür in der Mauer gibt, die jederzeit geöffnet werden kann. Und dass ich dafür keine Wissenschaftler brauche, dass ich nicht nachplappere, was ich nicht verstehe: Quanten und so. Es kommt einer Mutprobe gleich, Eingebungen zu trauen in einer Welt, die für alles Beweise fordert und Formeln, in einer Welt, in der das Wissen jenseits der Wissenschaft so wenig gilt. Wenn wir auf die Welt kommen, sind wir ganz allein, und wenn wir sie verlassen, auch. Zwischen diesen beiden Pforten, ich würde nicht behaupten, mit Sicherheit zu wissen, welche der Ein- und welche der Ausgang ist, würde ich gerne Glaube, Hoffnung und Zuversicht säen.
Eine halbe Stunde saß ich damals noch am Bett meines Mannes, dessen Brust sich nicht mehr hob und senkte. »Lassen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen«, hatte eine Krankenschwes ter mitfühlend zu mir gesagt. Sie legte mir ihre Hand auf die Schulter und entfernte den Beatmungsschlauch: »Damit ihr Mann so aussieht, wie Sie es gewöhnt sind.«
Doch er sah nicht aus, wie es sich gehörte, mit diesen wei ßen Lippen, mit dieser dunklen Gesichtsfarbe. Nie mehr würde er zu mir sprechen. Dennoch waren diese sterblichen Überreste das Einzige, was mir geblieben war, wollte ich ihn anfassen. Ich bedankte mich bei dem Körper und meinte die Seele, die irgendwo im Raum schwebte, wie ich mich während der zurückliegenden Nacht immer wieder bedankt hatte für die glücklichen Jahre. Und dafür, dass nichts zwischen uns offengeblieben war. Wir hätten am Morgen unseres letzten Tages streiten können, wir hätten ungut auseinandergehen können. Doch zwischen uns war alles leicht und fröhlich, frei und voller Liebe. Was ich noch hätte wissen müssen, betraf ein Ersatzteil: Wohin hast du die Gummilippe für die Spülmaschine gelegt? Ich finde sie nicht.
Bessere Bedingungen gab es nicht für mein Weiterleben. Ich litt an keinem schlechten Gewissen, keine Unterlassung quälte mich, ich musste mir keine Vorwürfe machen. Wenn es einen leichten Moment für den Tod gab, so hatte er ihn mir geschenkt. Beim Tanzen hatte ich ihn kennengelernt, und wie im Tanz hatte er sich in einer Drehung lächelnd von mir entfernt und war entschwunden.
Während ich an seinem Bett saß und auf den Impuls zum richtigen Moment des Gehens wartete – wenn ich den Raum verließ, würde ich meinen Mann nie wiedersehen –, wusste ich, dass es für mich nur eine Art gab, die nächsten Tage und Wochen zu überstehen. Ich ahnte nicht, dass die Einheiten für mein Überleben in Stunden, Minuten und manchmal auch Sekunden gemessen würden. Ich stand an der Schwelle und hatte kaum eine Vorstellung über den Raum, den ich nun allein betreten würde, es gab kein rechts oder links daneben vorbei, kein Hintertürchen und keine Fluchtwege, allein diesen Tunnel, fremder Kontinent, er war kalt und dunkel, ich würde mich dort verlaufen und Irrwege gehen, was ich noch nicht wusste, eben nur, dass ich hineinmusste … wenn ich weiterleben wollte. Ich ahnte nicht, dass sich manche Sekunden über Stunden erstrecken würden und dass man den Sekundenzeiger einer Uhr anstarren kann und nichts anderes tun, als zu hoffen, die Zeit möge bitte
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