Luna, Seelengefährtin - mein Hund, das Leben und der Sinn des Seins
Notärzte. Ich schaute Pathologen über die Schulter und einem Metzger beim Schlachten zu, ich war bei einer Geburt dabei, sprach mit Sterbenden, Schauspielern, ein Geheimdienstagent verriet mir, wie er V-Leute anwarb, und eine Tatortreinigerin ihren Meister Proper, auch mit Engelmedien und Wunderheilern habe ich gesprochen. Ich habe die Gelegenheit bekommen, über meinen Tellerrand zu blicken. Es befreit, wenn man erfährt, dass nicht alles so sein muss, wie man glaubt. Manche Begegnungen haben sich mir tief eingebrannt.
Einen Tag lang fuhr ich im Notarztwagen durch München. Ich hatte am Vormittag schon einiges Blut bei zwei Verkehrs unfällen fließen sehen und fasziniert beobachtet, wie die Feuerwehr einen Opel Corsa zu einem Cabriolet stutzte. Mittags wurden wir zu einem Einsatz am Münchner Stadtrand gerufen. Dort war eine sechsundachtzigjährige Dame beim späten Frühstück vom Stuhl gefallen. Als wir ankamen, war die Feuerwehr bereits vor Ort und reanimierte die Verstorbene. Neben ihr, völlig verstört in Schlafanzügen, ihre zwei Brüder, achtundachtzig und einundneunzig Jahre alt. Die drei Geschwister, so erfuhren wir, lebten seit ihrer Kindheit in dieser alten Villa mit dem verwilderten Garten. An der Tür stehend, verfolgte ich die Wiederbelebungsmaßnahmen. Den ausgemergelten blassen Körper der Greisin. Sein Aufbäumen. Die immer neuen Spritzen, die in den toten Leib gejagt wurden. Die kräftigen Stöße auf den Brustkorb. Die sachlichen Anweisungen. »Jetzt.« Und noch ein Stromschlag. Konzentriert und routiniert arbeiteten die Helfer dar an, die alte Dame ins Leben zurückzuholen. Sechsundachtzig und beim Frühstück mit den Brüdern umgekippt – das war doch ein schöner Abgang? Was würde danach kommen? Wenn es gelang, sie zu reanimieren, würde sie womöglich wochenlang im Koma liegen, sie würde ein Pflegefall sein, es war äußerst unwahrscheinlich, dass sie ihr altes Leben wiederaufnehmen könnte, und schon gar nicht könnte sie wieder jung und gesund werden. Gelegentlich liest man in der Zeitung von Menschen mit Herzinfarkten, die der Notarzt reanimierte. Toll, denkt man sich. Tot ist ja gar nicht mehr tot. Aber nur selten erfährt man, wie es danach weitergeht, dass die wenigsten Reanimierten die Klinik gesund verlassen. Wen der Tod in den Fängen hatte, der ist gebrandmarkt.
Die beiden Brüder waren völlig schockiert. Damit hatten sie nicht gerechnet. Sie erweckten den Eindruck, als sei ihre Schwester aus dem blühenden Leben gerissen. Mit dem Tod hatten sie sich nicht beschäftigt, sie war ja auch erst sechsundachtzig. Eine Patientenverfügung gab es nicht. »Bitte tun Sie a lles Menschenmögliche«, flehte einer der Brüder. »Damit wir unsere Schwester wiederbekommen«, fügte der andere hinzu, und ich vermutete, dass die beiden in diesem Moment weniger an ihre Schwester als an die Wiederherstellung ihres gewohnten Alltags dachten.
Als ich mich später mit dem Notarzt unterhielt, schämte ich mich für meine Gedanken. Der Arzt war ein Profi: »Was ich persönlich denke, spielt keine Rolle. Es ist meine Aufgabe, Leben zu retten.«
Ich schätze, dass ich heute nicht wissen kann, was ich selbst mir in einem solch hohen Alter wünschen werde. Gegen eine Sechsundachtzigjährige bin ich ein junger Hupfer. Die Zeit vergeht schnell, immer schneller sogar, und vielleicht werde ich eines Tages genauso am Leben hängen im Angesicht seines Verlustes? Zwar kann ich mir das im Moment nicht vorstellen, doch was weiß man schon? Man wird älter, und plötzlich ist alles anders, denn viele Dinge betrachtet und bewertet man in verschiedenen Lebensaltern unterschiedlich. Niemand kann mir garantieren, dass es ein Nachher gibt. Ich kann es glauben oder nicht. Und entweder ich merke dann, dass ich recht hatte, oder ich merke nichts. Damit muss ich rechnen – weg ist weg. Also deshalb lieber alles versuchen, um noch dazubleiben, so lang wie möglich? Wo man sich hier doch schon mal recht gut eingelebt hat in den letzten Jahrzehnten und sich auskennt. Im Danach kennt sich keiner aus, und die dort sind, halten dicht.
Es ist nicht einfach, in den entscheidenden Momenten des Lebens einen kühlen Kopf zu bewahren, doch wer sich der Panik hingibt, bereut das im Nachhinein oft sehr. Deshalb halte ich es für besser, den Ernstfall in Gedanken immer mal durchzuspielen und so als Trockentraining zu üben. Nicht nur die Erste-Hilfe-Maßnahmen, sondern auch deren Unterlassung. Ein Mitarbeiter des Hospizes
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