Lundborg-Westmann & Claes Claesson - 06 - Der Tröster
Sprechzimmer, das im selben Stockwerk lag wie die Kantine, um die Krankenakte zu holen, die ihr die Sekretärin der Notaufnahme am Vormittag gegeben hatte. Ein brauner Aktendeckel mit einem einzelnen Blatt. Die Aufzeichnungen waren zwölf Jahre alt. Damals hatte man noch so viel Verstand besessen, sich kurz zu fassen, und die Dokumentationshysterie, die EDV-Krankenakten möglich machten, hatte noch in weiter Ferne gelegen.
Den ganzen zähen Vormittag lang hatte sie es vermieden, sich hinzusetzen, da sie es nicht riskieren wollte, nicht wieder hochzukommen.
Sie drückte auf den Fahrstuhlknopf, betrat die Kabine und stellte sich neben einen älteren Mann mit Schiebermütze und Mantel. Dazu trug er karierte Filzpantoffeln. Wo er wohl hinwollte? Zurück auf die Station? Oder wollte er gerade die Biege machen? Sie vermied es, in den Spiegel zu schauen. Sie war zufrieden, obwohl sie todmüde war.
Claes und sie hatten sich getummelt wie zwei Frischverliebte, die ein gemeinsames Geheimnis verband. Sie verspürte immer noch Lust. Der Schlafmangel würde ihr erst am Nachmittag so richtig zu schaffen machen. Gestern hatte sie wieder einmal eine Reportage im Radio gehört, dass es Ärztinnen schlechter ging als Ärzten, dass sie gefühlsmäßig ausgelaugter seien und ein negativeres Bild von ihrem Arbeitsplatz hätten. Außerdem begingen sie häufiger Selbstmord als ihre männlichen Kollegen. Meine Güte. Diese Berichte tauchten in regelmäßigen Abständen auf. Die Schlussfolgerungen waren immer dieselben. Sehr wenige Veränderungen ergaben sich von selbst. Sie hatte das Gefühl, dass man ihnen die düsteren Fakten wie Mühlsteine um den Hals hängte. Allen tüchtigen Mädchen. Als wolle man ihre Begabung absichtlich torpedieren. Wäre es nicht besser, sie anzufeuern und zu unterstützen?
Sie stieg aus dem Fahrstuhl. Der Mann mit den Filzpantoffeln war ein Stockwerk vor ihr ausgestiegen. Sie hatte noch einmal einen raschen Blick auf das Krankenblatt geworfen, um ihr Gedächtnis aufzufrischen. Vor zwölf Jahren war Chariotte Eriksson wegen plötzlicher Bauchschmerzen in die Klinik gekommen. Sie war siebenundzwanzig Jahre alt gewesen und hatte damals wie auch jetzt keine Kinder gehabt. Der Schwangerschaftstest war genau wie jetzt auch negativ verlaufen. Sie hatte die Klinik mit intaktem Blinddarm wieder verlassen. Damals hatte sie solche Schmerzen gehabt, dass man einen endoskopischen Eingriff vorgenommen hatte. Dabei hatte man den Grund für die Schmerzen ermittelt: Eine Zyste an den Eierstöcken war geplatzt. Man hatte die blutige Flüssigkeit abgesaugt und die Zyste entfernt. Fertig. Nichts Besonderes. Die Patientin hatte bereits am folgenden Tag das Krankenhaus wieder verlassen können.
Es war mittlerweile halb eins. Zum zweiten Mal an diesem Tag schaute Veronika nach ihrer frisch operierten Patientin. Am Morgen war ihr Mann bei ihr gewesen.
Veronika betrat das Schwesternzimmer der Intensivstation. Schwester Anne saß am Computer. Das Zimmer war klein und hatte ein Fenster zu dem Raum, in dem Patienten unterschiedlich lange nach Eingriffen überwacht werden konnten. Veronika sah durch die Scheibe den Rücken einer Pflegehelferin, die sich über ihre Patientin beugte. Außer der Frau mit der Schussverletzung lag nur noch ein Patient der Orthopädie auf der Intensivstation.
Charlotte Eriksson erhalte immer noch Schmerzmittel, aber sonst gehe es ihr mit jeder Stunde besser, erzählte Schwester Anne. Die körperliche Genesung war besonders zu Anfang spürbar.
»Sie hatte wahnsinniges Glück, dass gerade jemand vorbeikam«, meinte Schwester Anne. »Ich habe beim Kaffeetrinken den Artikel in der Zeitung gelesen. Muss man jetzt schon Angst haben, wenn man mit dem Fahrrad nach Hause fährt?«
Darüber hatte Veronika noch gar nicht nachgedacht.
»Und dass der Schuss sie so weit unten erwischt hat, war auch ein verdammtes Glück«, fuhr Schwester Anne fort.
Veronika nickte. Sie hatte einen schalen Geschmack im Mund, drehte den Kaltwasserhahn des Waschbeckens auf und zog einen Plastikbecher aus dem Spender an der Wand.
»Sie hätte tot sein oder zum Krüppel werden können«, sagte Anne, »wenn die Kugel das Rückenmark beschädigt hätte.«
Veronika nickte erneut. Sie war zu müde, um derlei Spekulationen anzustellen. Das Thema war zur Sprache gekommen, egal wo sie sich an diesem zähen Vormittag in der Klinik aufgehalten hatte. Das Gerede, das alles zwischen Traumata, Trauer, Wut und Ohnmacht wie Kitt zusammenhielt. Damit
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