Lustakkorde - Ostfrieslandkrimi (German Edition)
ihr
Mauerblümchendasein aufzugeben.
„Aber“, hatte Sybille eine plötzliche
Eingebung, die ihr ein kehliges Lachen entrang und ihr ein fast dämonisches
Grinsen aufs Gesicht zauberte, „die Kleine hat ja auch noch einen Vater.“ Und
so, wie sie den auf Elternabenden und bei Elternsprechtagen in den letzten
Jahren erlebt hatte, würde der sich über die Eskapaden seiner Tochter ganz
bestimmt nicht freuen. Er, der sich einbildete, eine Tochter mit angeborenem
Heiligenschein in die Welt gesetzt zu haben. Nun, diesem ach so
gottesfürchtigen Fatzke würde sie mal anrufen. Mal sehen, was dann passieren
würde. Ganz sicher würde die heilige Magdalena ihren Klavierlehrer nie wieder
sehen. Ein klarer Punktsieg für sie, Sybille. Aber, was würde ihr dieser Sieg
nützen, außer der Gewissheit, dass Raffael es nicht mehr mit Magdalena trieb?
Schließlich konnte Sie selbst sich doch nun auch nicht mehr bei ihm blicken
lassen.
Sybilles Blick fiel auf die
Sammlung mittelalterlicher Waffen, die an der Wand ihres Wohnzimmers hingen und
Erbstücke ihres Vaters waren. Die scharfen Klingen blitzen im Sonnenlicht. Sie
schüttelte langsam den Kopf. Nein, es würde nicht reichen, nur die kleine
Magdalena auszuschalten. Raffael würde schnell Ersatz finden, und wieder wäre
es eine andere Frau, die mit ihm das erleben durfte, was sie, Sybille, sich doch
so sehr ersehnte. Also musste eine andere Lösung her. Und ihr war soeben eine
Idee gekommen, wie diese aussehen konnte.
5
Magdalena hatte Mühe sich zu
konzentrieren. Und das lag nicht nur daran, dass sie in Gedanken ständig bei
Raffael Winter war. Vielmehr war sie in höchstem Maße irritiert. Soeben hatte
sie ihre Deutschklausur zurückbekommen, eine Analyse von Goethes Faust.
Eigentlich hatte sie angenommen, dass ihr diese Arbeit sehr gut gelungen war,
wie alle anderen Deutschklausuren zuvor auch. Textanalysen fielen ihr gemeinhin
leicht, schließlich hatte sie von Kindesbeinen an tagtäglich mit ihrem Vater
eine intensive Bibelexegese betrieben und somit schon sehr früh ein Gefühl für
die Interpretation von Texten bekommen. Nun aber stand mit nur 5 Punkten
erstmals ein Ausreichend unter ihrer Arbeit.
Gedankenverloren blätterte
Magdalena in dem Stapel Zettel herum, den ihr die Lehrerin soeben mit einem
süffisanten Grinsen auf den Tisch geworfen hatte. Mit gerunzelter Stirn las sie
die Anmerkungen durch, die ihre Lehrerin mit rotem Fineliner an den Rand ihrer
Ausführungen geschrieben hatte. Der arme Goethe würde sich im Grabe
herumdrehen, wenn er diesen abenteuerlichen Gedankengang zu lesen bekäme stand beispielsweise an einer Stelle und Finden Sie diese Behauptung nicht
sehr anmaßend? an einer anderen. Und was sollte eigentlich diese
Randbemerkung bedeuten: Die Emotionen zwischen Mann und Frau sind ein Spiel,
bei dem man sich leicht die Finger verbrennt, ich mahne zur Vorsicht!
Aber genau darum war es in der
Aufgabe doch gegangen, dachte Magdalena und schüttelte den Kopf. Analysieren
Sie das emotionale Verhältnis, das sich zwischen Faust und Gretchen entwickelt. Nun, nichts anderes hatte sie doch getan. Schließlich war an der Aufgabe nichts
miss zu verstehen. Und genau mit solch einer Aufgabenstellung hatte sie auch
gerechnet und im Vorfeld der Klausur intensiv darüber im Internet recherchiert.
Wo also war das Problem?
„Frau Ravensburger“, wandte sie
sich an ihre Lehrerin, die gerade dabei war, den Notenspiegel mit Kreide an die
Tafel zu schreiben, „hätten Sie nach dem Unterricht vielleicht noch Zeit, mit
mir meine Klausur durchzusprechen? Ich verstehe da so einiges nicht.“
Als sie die Stimme Magdalenas
vernahm, hielt Sybille Ravensburger abrupt in ihrer Bewegung inne und drehte
sich dann langsam, fast wie in Zeitlupe, zu ihrer Klasse um. Sie schürzte ihre
Lippen und sagte dann gedehnt: „Nein, Magdalena, dazu habe ich leider überhaupt
keine Zeit. Wenn Sie Fragen haben, dann reichen Sie diese doch bitte
schriftlich bei mir ein. Vielleicht kümmere ich mich dann darum.“
Nach diesen Worten herrschte im
Klassenraum für einen langen Moment Grabesstille. Zweiundzwanzig erstaunte
Gesichter starrten erst die Lehrerin, dann Magdalena, deren Gesicht feuerrot
angelaufen war, mit offenem Mund an. Dann erhob sich ein Raunen, das von
Sekunde zu Sekunde lauter wurde, bis es schließlich in einem aufgeregten verbalen
Austausch über alle Schulbänke hinweg mündete.
„Ruhe“, brüllte Sybille
Ravensburger und klatschte in die Hände, „ich wüsste
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