Lustakkorde - Ostfrieslandkrimi (German Edition)
den letzten Jahren schon so viele furchtbare Tage
durchgestanden hatte. Einen nach dem anderen. In immer dem gleichen Trott. In
immer der gleichen Bedeutungslosigkeit. In immer der gleichen Angst. Ja,
Sybille Ravensburger hatte Angst. Vor allem und vor jedem. Und vor allem vor
ihrem Leben. Seit ihrer Jugend schon nahm sie Tabletten, um zu verhindern, dass
sie eines Tages von ihrer Angst über die Klippe gestoßen und ins Bodenlose
stürzen würde. Natürlich hatten ihre Verwandten und Freunde sie vor diesem
Hintergrund für verrückt erklärt, ausgerechnet Lehrerin werden zu wollen. Jeden
Tag vor selbstbewussten jungen Menschen zu stehen – würde sie da nicht ganz
schnell an ihre Grenzen stoßen? Aber in diesem Punkt hatte Sybille sich in ihr Leben
nicht hineinreden lassen. Für sie war es klar gewesen, dass sie genau diesen
Beruf wählen musste, um irgendwann aus ihrer Angst herauszufinden. Und bis
jetzt hatte das auch ganz gut funktioniert. In der Regel hatten die Schüler
Respekt vor ihr, sie arbeiteten gut mit und manche schienen sie sogar zu mögen.
Zumindest bildete sich Sybille das ein, auch wenn sie es selbst nicht ganz
glauben konnte. Aber doch, dachte sie bei sich, es kam schon ab und zu mal vor,
dass ihr einer ihrer Schüler ein Lächeln schenkte. Und das bedeutete ihr sehr
viel. Denn es hatte weiß Gott noch nicht viele Menschen in ihrem Leben gegeben,
die sie angelächelt hatten. Nicht, weil sie sie nicht mochten. Nein, sie hatten
sie ganz einfach nicht wahrgenommen. Wenn auf irgendwen in dieser Welt der
Begriff unscheinbar zutraf, dann war es sicherlich Sybille. Selbst ihrer
eigenen Mutter war es, als Sybille noch klein war, öfter passiert, dass sie
ihre Tochter einfach irgendwo vergessen hatte. Mehrfach hatte sie sie beispielsweise
in irgendeinem Kaufhaus stehen gelassen, und Sybille hatte sich furchtbar
geschämt, wenn sie als Dreikäsehoch alleine dagestanden und alle sie bedauernd
angesehen hatten. Und so war es immer geblieben. Ganz bestimmt war auch ihre
Unscheinbarkeit daran schuld, dass sie nie einen Mann abbekommen hatte. Selbst
ihr erstes und auf lange Zeit einziges sexuelles Erlebnis war ein Flop gewesen.
Sie war mit ungefähr siebzehn Jahren auf einer Klassenparty gewesen, und alle
hatten bei einem Schulkameraden in der Scheune übernachtet. Erschrocken, aber
auch entzückt hatte sie bemerkt, wie nachts einer der begehrtesten Jungen der
Oberstufe in ihren Schlafsack gekrochen kam und anfing, an ihrem Slip
herumzufingern, um dann gleich darauf mit harten Stößen in sie einzudringen.
Sie hatte einen stechenden Schmerz verspürt, aber dennoch auch Stolz, dass es
ausgerechnet sie gewesen war, die er auserwählt hatte. Also hatte sie dieses
wenig romantische erste Mal mit einem Lächeln auf dem Gesicht über sich ergehen
lassen. Doch kaum, dass er mit einem lauten Aufstöhnen körperliche Befriedigung
erlangt hatte, war er mit einem breiten Grinsen und den Worten Sorry, aber es
war keine andere mehr frei wieder aufgestanden, hatte sich die Hose hochgezogen
und ein Victoryzeichen hin zu seinen Kameraden gemacht, die vor dem Scheunentor
gestanden und sich köstlich amüsiert hatten.
Und dann, viele Jahre und so
manche Enttäuschung später, war plötzlich Raffael Winter in ihr Leben getreten.
Schon während der ersten Klavierstunde hatte er ihr Avancen gemacht, und sie
hatte sich angesichts seiner galanten Annährungsversuche tatsächlich
eingebildet, für ihn etwas Besonderes zu sein. Wieder war sie sehr
geschmeichelt gewesen, als er schließlich mit ihr geschlafen hatte. Sie hatte
es kaum glauben können, dass ein so attraktiver Mann wie Raffael Winter
ausgerechnet ihren Körper sexuell anziehend fand. Und prompt waren auch diesmal
ihre Hoffnungen auf ein wenig Liebesglück wieder auf brutale Weise zerstört
worden. Und schuld daran war einzig und allein Magdalena Fehnkamp.
Doch statt nun in Trauer und Gram
zu versinken, saß Magdalena hier vor ihr wie das blühende Leben und schien
irgendwie Gefallen an dem attraktiven Adrian zu finden. Und umgekehrt. Aber wie
war dieser plötzliche Sinneswandel zu verstehen? Warum fand Magdalena bei ihren
Klassenkameraden auf einmal so viel Zuspruch? Und was war mit ihrem Vater, dem
fürchterlich unsympathischen Onno Fehnkamp? Hatte er denn mit seiner Tochter nicht
über ihr schamloses Verhältnis zu Raffael Winter gesprochen? Das konnte doch
wohl kaum sein, so aufgebracht, wie er während des Telefonats gewesen war!
Nein, Sybille Ravensburger verstand
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