Lustakkorde - Ostfrieslandkrimi (German Edition)
der Rysumer Ortskern von einer hübsch restaurierten
historischen Windmühle, die ihre ausladenden Flügel wie zur Lobpreisung in das
frische Frühlingsblau des Nordseehimmels streckte.
Büttner sog die frische
Nordseeluft tief in seine Lungen. Viel zu lange war es her, dass er die Stadt
verlassen hatte, befand er unter dem Eindruck der scheinbar unendlichen Weite
der Krummhörn, die sich seinen Augen hier unverstellt darbot. Er beschloss,
seine Frau am nahenden Wochenende zu einem Ausflug über Land einzuladen. Nicht
unbedingt, um sich langen Spaziergängen am Deich hinzugeben. Nein, körperliche
Bewegung war eigentlich gar nicht sein Ding, wie man seinem Leibesumfang
unschwer ansah. Vielmehr würde er sich gerne zu Tee und Kuchen in ein
gemütliches, von der Frühlingssonne durchflutetes Café setzen und die
Beschaulichkeit der ostfriesischen Landschaft genießen. Vielleicht hier in
Rysum, vielleicht an der Knock. Das würden sie dann sehen.
Noch aber war an nette Ausflüge
nicht zu denken, denn heute war er rein dienstlich nach Rysum gekommen. Soeben
lief er mit seinem Assistenten Sebastian Hasenkrug die Mönkehörner Lohne
hinauf, um Ben Winter, dem Bruder von Raffael Winter, einen Besuch abzustatten.
Das Auto hatte Büttner nach einiger Überwindung unterhalb der Ringstraße stehen
lassen. Zum einen, weil die Rysumer Gassen eigentlich zu schmal waren, um von
großen Fahrzeugen zugeparkt zu werden. Vor allem aber, damit Büttner am Abend
seiner Frau erzählen konnte, er habe, wie sie es ihm immer wieder mit einem
vorwurfsvollen Blick auf seinen Bauchumfang ans Herz legte, freiwillig einen
Spaziergang über Land gemacht.
Ben Winter lebte mit zwei
Freunden in einem kleinen, geduckten Landarbeiterhaus aus rotem Klinker. Die weißen
Holzsprossenfenster waren umrahmt von dunkelgrünen Fensterläden, das Grundstück
eingefasst von einem niedrigen, weißen Holzzaun. Beim Anblick des üppig
bepflanzten Vorgartens ließ sich erahnen, dass dieses Kleinod in der warmen
Jahreszeit eine wahre Augenweide sein musste. Noch aber lagen Büsche und
Sträucher im Winterschlaf, lediglich ein paar vorwitzige Schneeglöckchen und
Krokusse hatten bereits ihre Köpfe durch die kühle Erde ins helle Licht
geschoben.
Ben Winter – von seinen Eltern
eigentlich auf den Namen Benjamin getauft, wie Büttner bei der Durchsicht der
Polizeiakten festgestellt hatte – war kein unbeschriebenes Blatt. Er hatte sich
in seinem jungen Alter bereits etliche Male wegen kleinerer Diebstähle,
vorsätzlicher Körperverletzung oder auch Nötigung vor dem Richter verantworten
müssen. Auch hatte sich schon der ein oder andere Psychologe mit ihm befasst,
mit dem Ergebnis, dass er als in Ansätzen verhaltensgestört eingestuft worden
war. Genau wie bei seinem Bruder Raffael, der sein Heil in einem
ausschweifenden Sexualleben gesucht hatte, schien die Ursache dieser Störung
klar zu sein: Der frühe Tod ihrer Eltern, die vor elf Jahren bei einem
Autounfall ums Leben gekommen waren. Die beiden Jungen waren von einem Tag auf
den anderen aus einem behüteten Dasein in die düstere Welt der Waisenkinder
gestoßen worden. Bis zur Volljährigkeit waren sie in Heimen untergebracht
gewesen, was bei Raffael einen nur kurzen Aufenthalt, bei seinem um zehn Jahre
jüngeren Bruder Ben aber eine halbe Ewigkeit bedeutet hatte. Gleich nach seinem
achtzehnten Geburtstag war Ben in sein Rysumer Elternhaus zurückgekehrt, das
seit dem Tod seiner Eltern vermietet gewesen war. Zwei Freunde von ihm, Sören
Hattinga und Ella Brandstuhl, hatten mit ihm eine Wohngemeinschaft gegründet,
weil sie es zuhause nicht mehr aushielten und ihnen sein Angebot daher sehr
entgegengekommen war.
Auf das Läuten der Kuhglocke hin,
die ganz offenbar als Klingelersatz an der Haustür angebracht worden war,
öffnete den Polizisten ein junges Mädchen. Ihr schlanker Körper steckte in
einem langärmligen gestreiften T-Shirt und einer Latzhose. Ihre mittelblonden,
glatten Haare hatte sie zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden, aus der sich
bereits so manche Strähne gelöst hatte und ihr ins Gesicht fiel. An ihren Händen,
die sie auf Schulterhöhe in die Luft hielt, klebte ganz offensichtlich Erde.
„Moin“, grüße Büttner und stellte
sich und Hasenkrug vor, „wir hätten gerne mit Ben Winter gesprochen.“
Das Mädchen nickte nur knapp,
blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn und bedeutete ihnen wortlos
einzutreten. Kaum, dass sie die Küche betreten hatten, rief sie lautstark
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