Lustnebel
alle in Chaytons und Rowenas Dunstkreis. War das alles ein Zufall? Kälte kroch ihre Wirbelsäule entlang und fraß sich als eisiger Schmerz in ihre Schädeldecke.
„Cain, wie lautete der Name der Eheleute, bei denen Marianne angestellt war?“, erkundigte sich Rowena besorgt. Das Gefühl der Vorahnung rauschte in ihren Ohren, und leichter Schwindel überkam sie. Sie faltete ihre Hände auf dem Schoß und hoffte, Cain bemerkte ihre Unruhe nicht.
„Alice und Wilson Cuthbert“, antwortete der Butler, und bis auf das wütende Blitzen in seinen Augen gab er keine Regung preis.
Rowena nickte. Cain zögerte einen Moment und musterte sie fragend.
„Benötigt Ihr meine Dienste noch? Ich sollte in den oberen Stockwerken nach dem Rechten sehen.“ Er verschränkte seine Arme hinter dem Rücken und setzte jene Miene auf, die er in den letzten Wochen als Butler eines großen Haushalts kultiviert hatte.
„Nein, geh ruhig“, erlaubte sie ihm.
Rowena griff nachdenklich nach ihrer Tasse. Der Tee war lauwarm, aber Rowena nahm es nur am Rande wahr. Sie starrte aus dem Fenster, und der sonnige Tag wirkte auf einmal weniger strahlend, weniger hoffnungsvoll auf sie. Rowena schob ihren Teller hin und her. Der Appetit war ihr gründlich vergangen.
Angestrengt sortierte sie die Informationen und Hinweise, auf die sie in den vergangenen Monaten gestoßen war. Ihr wurde übel. Erneut durchdachte sie die Angelegenheit. Wie oft sie auch darüber grübelte, das Ergebnis blieb dasselbe.
Die Cuthberts waren in die Sache verstrickt. Und sie kannten Turnbull. Das erachtete Rowena bereits als erwiesen. Chaytons Rolle in der ganzen Sache blieb mysteriös. Doch sie war sich sicher, dass er mehr über den Hellfire Club und seine Machenschaften wusste, als er preisgab.
Sie musste herausfinden, wie und wer alles in die Todesfälle involviert war. Das war sie sich und Claire schuldig. Rowena erhob sich. Schon immer hatte sie Listen als förderlich betrachtet, ihre Gedanken zu ordnen. Es schien ihr ratsam, eine Auflistung zu erstellen, um nur ja nichts zu vergessen oder zu übersehen.
Rowena ließ den Papierbogen mit der Niederschrift ihrer detektivischen Erkenntnisse in die Schublade ihres Schreibsekretärs fallen und zwang sich zu einem Lächeln, das sie Chayton schenkte, der hinter ihr im Raum stand.
„Ich habe dich nicht hereinkommen hören“, verkündete sie und hoffte, er bemerke ihre Bestürzung nicht. Die Ergebnisse ihrer Überlegungen fielen alles andere als erfreulich aus.
Rowena ging auf Chayton zu und umarmte ihn. Im selben Moment, als sie sich in seine Arme schmiegte, fühlte sie, wie perfekt sein Körper ihren umfing und dass ihre Herzen im gleichen Takt schlugen. Sie vergrub ihr Gesicht in seinem Hemd und sog den Geruchsmix aus Chayton, Seife, Kräutern und Pferd ein. Sie rieb ihre Wange an dem glatten Baumwollstoff.
„Du bist ausgeritten?“, fragte sie nach.
„Ja, ich machte alten Bekannten kurz meine Aufwartung“, erklärte er bereitwillig. Seine Stimme klang rau und belegt. Rowena blickte in sein Gesicht. Seine exotischen Züge zeigten wie meist keine Regung, doch in seinen Augen brannte eine Vielzahl an Gefühlen. Er hob seine Hand und strich ihr einige vorwitzige Strähnen aus dem Gesicht. „Ich werde für ein paar Tage nach London reisen müssen“, begann er.
Neugierig legte Rowena den Kopf schief. Ihr Herz pochte voller Vorfreude. Nahm er sie mit? Sie könnte ihre Mutter und Millicent besuchen. Vielleicht wusste die junge Frauenrechtlerin Neues über die Frauen, deren Tod Scotland Yard und Rowena Kopfzerbrechen bereiteten.
Chaytons nächster Satz machte ihre Hoffnungen zunichte: „Während ich weg bin, wirst du weder Gäste empfangen noch außer Haus gehen. Du bleibst auf Barnard Hall, bis ich zurück bin“, befahl er. Sein Blick wurde hart und unnachgiebig. Rowena ahnte, dass er seine gefassten Beschlüsse nicht ändern würde. Sie wollte nicht streiten, also nickte sie, mit dem Hintergedanken, sich weder vom Verlassen des Hauses noch von Besuchen abhalten zu lassen, wenn ihr der Sinn danach stand.
Chayton fixierte sie misstrauisch, und sie lächelte umso lieblicher, wie sie hoffte, um seine Zweifel zu zerstreuen.
„Was zwingt dich nach London?“, wollte sie wissen.
„Geschäfte“, erklärte Chayton. „Ich reise noch heute ab, damit ich so bald wie möglich zurückkehren kann.“
Rowena sah der Staubwolke hinterher, die die Kutsche aufwirbelte. Sie machte sich nicht die Mühe, zu
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