Lustnebel
politische Debatten aus, doch sein Koch war ein Meister seines Faches. Rowena würde jeden Gang doppelt zu schätzen wissen, um sich für die langweiligen Tischgespräche und den Schreck, den ihr Claire eingejagt hatte, zu entschädigen.
Sir Stanley schaffte es, den Small Talk bis zum ersten Gericht durchzuhalten. Dann brachte einer seiner unsäglichen Parteigenossen das Gespräch auf die derzeitigen Beschlüsse im Parlament.
„Es ist eine Schande!“, donnerte Sir Stanley. „Sollten wir das zulassen? Dieser deutsche Prinz als Regent, bis die Kinder ihrer Majestät die Regierung übernehmen können? Niemals, sage ich!“
Rowena senkte ihr Haupt über den Teller und rollte die Augen. Ein Lakai trat geräuschlos neben sie und bot ihr eine weitere Scheibe Fleisch an. Dankbar griff sie zu, ungeachtet der missbilligenden Blicke ihrer Mutter.
„Queen Victoria schenkt ihm ihr Vertrauen“, meldete sich Ophelia zu Wort. Auf ihrem massigen Körper saß nicht nur ein wacher, sondern auch ein politisch interessierter Kopf. „Ich denke, wir sollten unserer jungen Königin genug Menschenkenntnis zutrauen, um unsererseits Albert die zeitweilige Regentschaft zu überlassen.“
Rowena richtete ihre Aufmerksamkeit auf Sir Stanley, neugierig auf seine Reaktion. Der mächtige Backenbart des Mannes zitterte, und alle Anwesenden starrten interessiert zwischen Tante Ophelia und dem Parlamentarier hin und her.
Sir Stanley lachte verlegen. „Meine liebe Mrs. Salinger, sicher habt Ihr recht, doch Ihr solltet nicht vergessen, dass eine derartige Entscheidung weitreichende Folgen haben wird.“
„Wollt Ihr mir nicht darlegen, welche Befürchtungen Ihr hegt, Sir Stanley?“
Schmunzelnd konzentrierte Rowena sich auf ihre Speisen und lauschte mit halbem Ohr der aufflammenden Diskussion. Bedauernd dachte sie, dass es bedeutend unterhaltsamer sein könnte, wäre Claire anwesend.
Tante Ophelia und Onkel Herbert verließen das Haus der Walstons ungewohnt früh. Wie Rowena ihre Tante kannte, ließ dieser Claires Unpässlichkeit keine Ruhe, und sie wollte sichergehen, dass alles zum Besten stand.
Rowena und ihre Mutter saßen Tee trinkend im Morgensalon, als in der Eingangshalle ein Tumult ausbrach.
Eine Frau heulte wie ein Schlosshund, während ein Mann herumbrüllte. Die Stimmen klangen verzweifelt. Die Mutter stellte entsetzt ihre Tasse ab. „Das sind Ophelia und Herbert“, erkannte sie verwirrt und strebte Richtung Tür.
Die Salontür flog auf, und Ophelia walzte herein. Ihre Frisur wirkte zerzaust, eine lange Strähne baumelte auf Kinnhöhe. Ihre geröteten Augen und die nassen Wangen bewiesen, dass sie geweint hatte. Sie stürzte sich auf Rowenas Mutter Florence und umarmte ihre schlanke Schwester Halt suchend. Hinter ihr betrat Herbert den Salon, nicht weniger hoffnungslos als seine Gemahlin. Er sah Rowena an, und sein verloren wirkender Blick traf sie wie ein Todesstoß mitten ins Herz. Er streckte seine Hand nach ihr aus.
„Claire“, sagte er nur. Rowena ergriff seine Hand, und er zog sie in seine Arme. Sein massiger Körper zitterte. „Claire, sie ist … man hat …“ Seine Stimme brach.
„Sie ist tot“, schluchzte Ophelia laut.
Tot, tot, tot, hallten die Worte immer und immer wieder in Rowenas Kopf nach.
Die Trauergäste sammelten sich um den Sarg wie eine gierige Meute. Jeder hoffte, einen Hinweis auf die Todesart zu bekommen. Es wurde geflüstert und getratscht. Unzählige Blicke ruhten auf den Angehörigen, und Rowena bildete sich ein, sie träfen misstrauische und vorwurfsvolle Blicke.
„Was ist geschehen?“, murmelte eine Männerstimme hinter Rowena. Sie erstarrte und lauschte dem Antwortenden. „Man hat sie in der Seitenstraße einer übel beleumdeten Gegend gefunden. Angeblich ein Raubüberfall, aber das glaube ich nicht. Ein Bekannter bei Scotland Yard erzählte mir, das arme Ding habe offensichtliche Anzeichen einer Vergiftung aufgewiesen.“
Rowena drehte sich abrupt um und starrte zwei vornehmen Herren ins Gesicht, die sich verlegen verneigten. Der Blonde der beiden errötete heftig. Sie erinnerte sich, ihm einmal auf einem Ball vorgestellt worden zu sein. Sein Name lautete Mr. Selwick.
„Lady Rowena“, stotterte er. „Mein herzliches Beileid zu Eurem tragischen Verlust.“
Sie nickte stumm und drängte die Tränen zurück. „Mr. Selwick, wieso hat uns niemand darüber in Kenntnis gesetzt?“, krächzte sie. Ihr Hals schmerzte wegen der zurückgehaltenen Tränen. Der blonde Mr.
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