Lustvolles Erwachen
nicht länger so tun, als würde irgendein Teil ihres Lebens wirklich ihrer sein. Weder ihr Haus noch ihr Leben oder ihre Träume. Nicht einmal ihre Schätze, im Laufe der Jahre im Exil liebevoll Stück für Stück gesammelt, nur für sie von Wert und unauflösbar mit den Träumen verbunden, die ihr die Kraft gegeben hatten, all das zu überstehen.
Diccan hatte ihr alles genommen. Er wusste, dass sie nach London zurückkehren würde – wenn auch nur wegen Kate. Er wusste, dass sie die Kisten wieder zunageln und wegstellen würde, weil sie einfach nicht in diese Welt gehörten. Allerdings hatte Grace dieses Mal das Gefühl, dass sie sie nie wieder öffnen würde.
Sie lehnte sich über die Brüstung der Steinbrücke, die dem Anwesen seinen Namen gab. Sie liebte die weiche, runde Struktur. Sie liebte es, wie der Kennet darunter leise flüsternd vorbeifloss. Sie liebte die Zeit, die sie auf der Bank unter den Weiden verbracht hatte, eingehüllt in stilles Grün und den Gesang der Insekten, während sie den ganzen Tag lang geangelt hatte. Was sie am meisten geliebt hatte, war das Gefühl, dass sie nach einem Leben an weit entfernten und fremden Orten endlich nach Hause gekommen war.
Sie spürte, wie ihre Selbstbeherrschung schwand und Schmerz sie ergriff. Und sie wusste, dass es noch schlimmer werden würde. Sie hatte alles getan, was man von ihr erwartet hatte. Sie war eine gute Tochter gewesen, eine gute Frau, eine gute Freundin. Sie hatte ihr Leben damit verbracht, ihre Träume hintanzustellen, damit sie all das sein konnte. War es abwegig, dass sie erwartete, irgendwann dafür belohnt zu werden – wenn auch nur mit einem Zuhause, wo sie sich willkommen und geliebt fühlte?
Es war nett von Diccan gewesen zu sagen, was er gesagt hatte. Aber sie wusste es besser. Er wollte sie nicht. Trotzdem würde er sie niemals gehen lassen. Nicht jetzt. Vor allem nicht, wenn das, was sie vermutete, tatsächlich der Wahrheit entsprach.
Sie legte die Hand auf ihren flachen Bauch, und das schlechte Gefühl verschwand aus ihrer Brust. Wäre es denn so schlimm? Sicherlich könnte sie einen Platz für sich selbst gegen eine Zukunft eintauschen, die sie sich nie im Leben zu erträumen gewagt hätte. Eine Zukunft, die sie sich nicht einmal hätte vorstellen können. Wenn sie sich nicht einmal eine Hochzeit ausgemalt hatte, wie hätte sie dann ein Kind vorhersehen können?
Wieder wurde sie von Empfindungen überrollt. Doch dieses Mal war es ein ausnehmend süßer Schmerz. Ein Baby. War es tatsächlich möglich? Ihre Zeit war überfällig, aber eigentlich kam sie nie besonders pünktlich. Allerdings war ihr in der vergangenen Woche übel gewesen, und sie hatte sich bei allem, was gehaltvoller als trocken Brot und Suppe gewesen war, übergeben müssen. Breege hatte sie misstrauisch beäugt, und Radhika, die schon ein Kind hatte, hatte gelächelt.
Ja , dachte sie. Sie würde das alles hier aufgeben – und sie würde es mit Freude tun –, wenn Diccan ihr ein Kind geschenkt hätte. Wenn sie jemanden hätte, der ihr gehörte, der sie lieben würde und Freude, Trost und Ruhe bei ihr suchen und finden würde. Wenn sie einen kleinen warmen Körper hätte, den sie umarmen könnte . Sie versäumte nie die Gelegenheit, Radhikas Tochter Ruchi zu umarmen, auch wenn das Mädchen inzwischen sieben Jahre alt und klüger als alle anderen im Haushalt war. Sie erinnerte sich daran, was für ein Wunder es gewesen war, dieses winzige Baby auf dem Arm zu haben. Ein kleines Händchen hatte eine Haarsträhne umklammert, das Herzchen hatte beruhigend an ihrem Herz geschlagen. Sie erinnerte sich daran, eine schreckliche Sehnsucht nach einem eigenen Baby empfunden zu haben.
Natürlich hatte sie sich davor hüten wollen zu hoffen, dass dieser Wunsch in Erfüllung ging. Unverzeihlicherweise war ihr das nicht gelungen.
Und so nagelte sie die Deckel wieder auf ihre wertvollen Kisten, packte die Uniformjacke wieder beiseite und nahm die quietschende alte Reisekutsche ihrer Tante, um nach London zurückzufahren. Eine Woche, wiederholte sie immer wieder. Nur eine Woche, bis ich wieder fliehen kann. Eine Woche, bis ich zu Olivias Hochzeit reise und wenigstens meine Freundinnen um mich habe, die mich unterstützen, während ich versuche, mein verworrenes Leben zu ordnen. Und dann würde sie vielleicht endlich mit Sicherheit wissen, wie ihr Leben aussehen würde.
Eine Sache tat sie allerdings für sich selbst. Sie nahm Mr. Pitt mit nach London. Wenn Diccan wissen
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