Lustvolles Erwachen
doch die Wahrheit gesagt, oder?«
»Ja, Grace.« Diccan lächelte. »Sosehr dich das auch mit Kummer erfüllen mag – Cousin Charles ist sich seiner Stellung und Bedeutung als Erzbischof von Canterbury viel zu bewusst, als dass er illegale Eheschließungen vollziehen würde. Du bist tatsächlich meine Frau.«
Sie nickte bedächtig. »Und ich stehe auf dem Dach deines Hauses. Auf deinem Land. Und esse dein Essen. Ich habe verstanden, Diccan. Trotzdem – solltest du versuchen, mich mit Gewalt aus diesem Haus vertreiben zu wollen, werde ich dich erschießen.«
Diccan sah auf und war bereit, sich zu streiten. Aber in dem Moment bemerkte er den verzweifelten Ausdruck des Verlustes in Grace’ Augen. Es traf ihn wie ein Schlag in den Magen. Er wollte ihr so gern sagen, dass er sie verstand. Dass er diese Aasgeier niemals in das Haus gelassen hätte, wenn er von ihren Schätzen gewusst hätte. Aber er durfte nichts sagen. Nicht hier draußen.
»Könnten wir einen vorübergehenden Waffenstillstand ausrufen, bis ich mit dir geredet habe?«, fragte er. »Ich verspreche dir, dass ich nicht die Polizei rufen werde, wenn du mir versprichst, dass du nicht zulässt, dass einer von deinen Freunden mich mit einer Mistgabel aufspießt.«
Eine ganze Weile war er sich nicht sicher, ob sie antworten würde. Sie stand einfach dort oben auf dem Dach und dachte nach. Die Sonne funkelte in ihren Haaren, und ihre Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt. Ihre Freunde sahen schweigend zu.
Schließlich seufzte sie und legte ihre Waffe ab. »Rühre dich nicht von der Stelle.«
Während ein Bataillon von ehemaligen Soldaten mich im Blick hat? Wohl kaum.
Kurz darauf teilte sich die Gruppe im Eingangsbereich des Hauses, um Grace hindurchzulassen. Diccan schwang sich vom Pferd und traf sie am Fuße der Treppe.
»Also gut«, sagte sie. Die Röte auf ihren Wangen strafte ihre scheinbare Gelassenheit Lügen. »Ich höre.«
Plötzlich war sie ihm so nahe, dass er den exotischen Blumenduft ihrer Seife wahrnehmen konnte. Sie hatte an Gewicht verloren und sah blasser aus. Zugleich war sie von einem sonderbaren Glühen umgeben, eine Lebendigkeit, die ihm vorher nicht aufgefallen war. Es kam ihm beinahe so vor, als hätte London ihr wie ein bösartiger Blutegel alles Leben ausgesaugt. Er wollte sie in die Arme schließen und ihr sagen, dass er diese Grace mochte und ihr niemals wehtun würde. Er wollte wieder mit ihr schlafen. Er wollte keinen Sex – Sex hatte er mit Minette gehabt. Er wollte sie lieben. Doch er bezweifelte, dass Grace stehen bleiben würde, wenn er ihr den Unterschied erklärte.
Es gab so vieles, was er sagen musste, dass ihm nichts einfiel. Er warf einen flüchtigen Blick zum Dach hinauf. »Wer sind deine Freunde?«
Sie blinzelte. Dann warf auch sie einen kurzen Blick nach oben. »Harper kennst du ja schon. Und daneben steht Breege, seine Frau. Dann sind da noch Radhika und Bhanwar Singh. Bhanwar ist mein Chefkoch.«
»Unsinn. Ich erkenne den Turban und den Bart. Bhanwar ist ein Sikh-Kämpfer.«
»Das auch.«
»Er muss dir sehr ergeben sein, wenn er deinetwegen Indien verlassen hat.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Es war besser, als dafür hingerichtet zu werden, mit der Geliebten des Moguls geschlafen zu haben.«
Hat sie ihr ganzes Leben damit verbracht, anderen Leuten zu helfen?, fragte er sich. Hatte sie je etwas für sich eingefordert – außer der Sicherheit, irgendwann in ihrem eigenen Haus in Ruhe diese Kisten öffnen zu können? Plötzlich wollte er es wissen. Er wollte alles wissen, was ihm vorher zu fragen nicht eingefallen war: Wie ihre Träume aussahen, ihre Wünsche, ihr Trost. Was sie aufregte und was sie beruhigte. Er schämte sich, zugeben zu müssen, dass er nach den letzten Wochen noch immer nichts über sie wusste.
Gott, er wünschte sich, ihre Hand nehmen und mit ihr in das Haus gehen zu können – zur Hölle mit den Rakes und den Grenadieren und der verdammten Regierung. Sollte doch jemand anders sein Leben riskieren, um England zu retten. Sie sollten ihn jedenfalls in Ruhe lassen, damit er diese vielschichtige, verführerische Frau kennenlernen konnte.
Zu wissen, dass er das nicht konnte, sorgte nicht gerade dafür, dass er sich besser fühlte. Es stand mehr auf dem Spiel als nur sein Seelenfrieden oder der seiner Frau. Also musste er sie zurück in diese Ehe zwängen und weitermachen, bis er alles erklären konnte. Bis sie ihm, wie er hoffte, verzieh.
Den Kopf in den Nacken gelegt, warf er
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