Lustvolles Erwachen
sie noch nicht angerührt. Sie kämpfte gegen das immer stärker werdende Gefühl an, auf eine Theaterbühne gestoßen worden zu sein, ohne den Text des Stückes zu kennen.
Vollkommen unerwartet trat Diccan hinter sie und nahm ihr den Teller ab.
»Wenn ich Ihnen meine Frau entführen dürfte, meine Herren«, begrüßte er sie. »Ich bin gerade ein kleines bisschen neidisch auf das Militär.«
»Seien Sie nicht albern«, widersprach einer der Männer. »Sie haben das hübscheste Mädchen von ganz England geheiratet.«
Sein Lächeln wirkte ehrlich. »Ja, aber ich habe das Gefühl, eine Heldentat vollbringen zu müssen, damit sie mir dasselbe Lächeln schenkt, das sie Ihnen zuwirft.«
Grace wusste, dass er sein »Gesellschaftsgesicht« aufgesetzt hatte. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass sie errötete. Wenn es doch nur wahr wäre. Sie gestattete Diccan, ihr aufzuhelfen. Dann machte sie einen Knicks vor den Männern, die sie immer als ihre Familie angesehen hatte, und hakte sich bei dem Mann unter, der dieses Privileg nun für sich beanspruchte.
»Ich möchte dich nicht von der Feier wegzerren«, sagte er und hatte sich zu ihr vorgebeugt, sodass sie seinen Atem wie einen verführerischen Hauch in ihrem Haar spüren konnte. »Aber ich muss nach London.«
Einen Moment lang starrte Grace ihn mit leerem Blick an. Wollte er sie verlassen?
»Kates Ankleidedame hat für dich gepackt«, fuhr er fort. »Ich muss dich bitten, dich von den Gästen zu verabschieden, damit wir aufbrechen können.«
Er sprach, als würde ihr Einverständnis von vornherein feststehen. »Wir haben doch noch nicht einmal deinen Vater gesehen«, hörte sie sich stammeln.
Sein Lächeln war trocken. »Oh, er wird nicht kommen. Er hält nichts von Alkohol. Oder Festen. Oder Freude.«
In dem Moment kam Lady Kate zu ihnen. Sie hielt Grace’ Umhang und ihre Haube in der Hand. »Sieht so aus, als hättest du es geschafft, sie wegzulocken.«
»Du wusstest darüber Bescheid?«, fragte Grace und fühlte sich verraten und überrumpelt.
Kates Lächeln war schuldbewusst. »Er hat uns gesagt, dass er gehen muss. Ich habe angeboten, mit dir zusammen nach London zu reisen, doch ich glaube, er hat recht. Ihr beide solltet jetzt als vereinigte Front auftreten.«
Grace seufzte. »Das stimmt natürlich.« Das Gefühl, vollkommen fehl am Platz zu sein, wuchs noch weiter. Sie nahm die unscheinbare graue Haube entgegen. »Es kam nur ein wenig überraschend.«
»Ich muss Bea von zu Hause abholen«, sagte Kate. »Aber sobald wir London erreichen, hat Diccan mir versprochen, dass Bea und ich dir helfen dürfen, ein Haus zu suchen. Bea wird sehr erfreut sein.«
Grace musste bei dem Gedanken an die liebe, treue Lady Bea lächeln. Sie war sich allerdings nicht so sicher wie Kate, dass Lady Bea die überstürzte Hochzeit gutheißen würde.
Grace band gerade ihre Haube zu, als der scharfe Klang einer Stimme sie zusammenfahren ließ.
»Wohin wollt ihr?«
Sie drehte sich um und erblickte Phillip, der auf sie zukam.
Diccan packte sie sanft am Ellbogen. »Ich bringe meine Ehefrau zurück nach London«, sagte er.
»Heute Abend noch?«, entgegnete Phillip laut und zog die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich. »Seien Sie nicht albern. Es ist schon nach sechs.«
»Heute Abend noch«, erwiderte Diccan. »Ich habe dort Geschäftliches zu erledigen, das keinen Aufschub duldet.«
»Geschäftliches.«
»Mit der Regierung.«
Phillip verschränkte die Arme und stellte sich breitbeinig hin. Er wirkte wie eine lebendige Absperrung. »Diese Ehe muss vollzogen werden.«
Als es um sie herum mit einem Mal still wurde, wusste Grace, dass alle im Raum ihn gehört hatten. Sie fühlte, wie ihr Magen sich zusammenzog. »Wie bitte?«
Diccan ließ sie gerade lange genug los, um den Husaren am Arm zu packen und in ein Nebenzimmer zu ziehen. Die beiden Gardisten, die in dem Zimmer Würfel gespielt hatten, bemerkten den Ausdruck auf Diccans Gesicht und flohen. Grace’ Herz stockte, als sie kurz darauf mit Kate zusammen Diccan und Phillip folgte. Sie kam gerade rechtzeitig, um zu hören, wie Diccan den jungen Phillip barsch anfuhr.
»Wenn es Ihr Ziel ist, meine Frau zu demütigen«, sagte er, und seine Stimme triefte vor Verachtung, »dann machen Sie das sehr gut.«
Doch Phillip gab nicht nach. »Sie wissen, was ich meine. Was nützt es, wenn Sie die Ehe hintanstellen? Geben Sie mir Ihr Wort.«
»Ich bin auch noch da«, meldete Grace sich, obwohl ihr Hals wie zugeschnürt
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