Lustvolles Erwachen
tun.«
Er hob eine Augenbraue, als er ihr graues indisches Mullkleid betrachtete.
Sie bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Selbst eine so fähige Modistin wie Madame Fanchon braucht länger als zwei Tage, um eine Garderobe für Boudicca zu nähen, mein Lieber.«
Er warf ihr ein Lächeln zu. Schnell wurde das Lächeln zu einem Stirnrunzeln, das sie lesen konnte wie die Times. O Himmel, was für eine Katastrophe wird die unscheinbare Grace aus ihrer Garderobe machen?
»Ich wollte mir gerade vor dem Abendessen einen Sherry genehmigen«, sagte sie und wandte sich ab. »Leistest du mir Gesellschaft?«
Er nickte und nahm ihr gegenüber Platz.
Sie tranken zusammen Sherry und aßen dann gemeinsam in ihrem Salon über der Stadt zu Abend. Beide waren beherrscht, gesittet. Ihre Unterhaltung entsprach den üblichen Gepflogenheiten – es ging um das Wetter und Bekannte und um Diccans letzte Reise. Und schließlich sprachen sie bei Früchten und Nüssen über seine Stellung im diplomatischen Korps.
»Wirst du jetzt nach Frankreich geschickt?«, fragte Grace und knabberte an einer Aprikose.
»Das will ich hoffen. Wir werden sehen, was geschieht, wenn sich die Aufregung um unser kleines Drama gelegt hat.«
Sie legte ihre Gabel beiseite. »Dann musst du dafür büßen?«
»Nein. Ich werde nur verwarnt. Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest. Jetzt iss auf.«
»Wirst du im diplomatischen Dienst bleiben?«, wollte sie wissen. »Nachdem ich Gadzooks gesehen habe, dachte ich, du könntest vielleicht an der Pferdezucht interessiert sein.«
»Gadzooks ist mehr ein Freund als eine Anlage«, erwiderte er nach einer kurzen Pause. »Ich hätte gern Fohlen von ihm. Allerdings will ich ihn eigentlich nicht zum Decken verwenden. Das würde ihn nur ablenken.«
Beim Gedanken an den langgliedrigen Rotschimmel musste sie lächeln. »Wirklich ein furchtbares Schicksal.«
Tatsächlich musste auch Diccan lächeln. Noch nie hatten sie ihre Zukunft besprochen. Sie mieden das Thema, als könnten sie das eigentlich Unvermeidliche ewig vor sich herschieben. Als wären sie Tischnachbarn bei einem Dinner in der feinen Gesellschaft – kaum miteinander bekannt und nur wegen gesellschaftlicher Konventionen überhaupt im Gespräch miteinander. Vielleicht ist es auch nur mein Gefühl, in der Luft zu hängen, dachte Grace. Diccan war es vermutlich egal, dass er das Versprechen gegeben hatte, so schnell wie möglich mit ihr zu schlafen. Und dass diese Nacht die Nacht sein würde, in der es passierte – außer er wurde zu einem Notfall gerufen.
Grace war es nicht egal. Für sie spielte es eine Rolle. Jedes Mal, wenn sie einen Hauch von seiner Sandelholzseife wahrnahm, wurde sie daran erinnert. Jedes Mal, wenn er die Hand hob, um sich durchs Haar zu fahren, und sie den Rubin an seinem Ring sah, der wie ein Blutstropfen schimmerte. Jedes Mal, wenn er lachte und sie sein Lachen wie ein honigsüßes Rumpeln in ihrem Bauch spürte.
Sie dachte, sie hätte ihre Nerven gut im Griff und würde sich nichts anmerken lassen, doch auf ihren Körper schien sie keinen Einfluss zu haben. Immer wenn Diccans Hand ihr näher kam, fing ihre Haut an zu kribbeln. Immer wenn er lächelte, musste sie den Drang niederkämpfen zurückzulächeln – auch wenn sein Lächeln noch so unpersönlich war. Stolz zu sein, auch wenn sie wusste, dass es genauso sinnlos wie lächerlich war. Er zeigte kein Anzeichen, dass er vorhatte, mit ihr zu schlafen. Dennoch war ihr Körper voller Hoffnung. Neben aller Unsicherheit wuchs ihre freudige Erregung. Sie wurde von einem zittrigen, aufgeregten Gefühl übermannt und fühlte sich fremdartig und lebendig. Und die ganze Zeit über tat Diccan so, als würde er nicht mehr tun, als eine weitere unwichtige Hoheit zu beaufsichtigen.
Erst als die Gedecke vom Tisch geräumt wurden, verriet er sich. Er hatte seine Eindrücke vom Hof in Sankt Petersburg erzählt, als die Tür sich zum letzten Mal für diesen Tag hinter dem Kellner schloss. Plötzlich verstummte Diccan und sah sich um, als wäre er überrascht, einen leeren Tisch zwischen ihnen zu sehen. Er stand auf und strich seine Jacke glatt. Seine Bewegungen wirkten fahrig.
Angesichts seiner offensichtlichen Nervosität fühlte Grace sich ein bisschen besser. »Diccan?«
Er schenkte sich am Barschrank einen Brandy ein, trat zum Fenster und blickte hinaus. Grace, die noch am Tisch saß, hatte keine Ahnung, wie es nun weitergehen sollte. Er war schließlich derjenige, der die Erfahrung
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