Lustvolles Erwachen
Überraschung.«
Ungeduldig klopfte sie sich den Staub vom Kleid und warf einen Blick auf Diccans makellose kaffeebraune Jacke, seine hellbraune Hose und die glänzenden Schuhe. Selbstverständlich sah er elegant und unerschütterlich aus. Sie dagegen sah aus, als hätte sie die Treppe geputzt. »Ich nehme nicht an, dass du so nett sein könntest, auch ein wenig derangiert auszusehen?«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Ich würde fast alles für dich tun, meine Liebe. Aber meinen Weston -Mantel zerknittern? Willst du Biddle quälen?«
Sie lächelte. »Ich muss von meinem Wunsch erfüllt sein, den Park zu verlassen.«
»Ich werde dich begleiten«, sagte Diccan. »Gleich nachdem ich mit dem jungen Mr. Palmerston hinter dir gesprochen habe.«
Der Junge straffte die Schultern. »Es ist mir ein Vergnügen«, sagte er und wirkte mit einem Mal nervös. »Darf ich vorstellen …«
Diccan hob sein Monokel. »Nein«, sagte er kühl, »ich glaube nicht, dass Sie das dürfen.«
Das Mädchen wurde blass. Der Junge versuchte, sich herauszureden. »Wir haben es ein bisschen übertrieben, Sir, nicht wahr?«, platzte er heraus und umklammerte sein eigenes Monokel. »Es war im Grunde genommen ein Unfall.«
Diccan bewegte sich nicht. Grace hörte jemanden aufkeuchen. Ihr stockte der Atem, als Diccan sein Monokel sinken ließ. Seine sonst so gelangweilte Miene wirkte plötzlich kalt wie der Tod. »Seltsam«, sagte er, und Grace rann ein Schauder über den Rücken, »ich habe etwas ganz anderes gesehen. Etwas, das unentschuldbar ist.«
Der junge Mann erkannte endlich die Gefahr und fing an, sich hastig zu entschuldigen.
»Siehst du, Chuffy?«, hörte Grace hinter sich jemanden sagen, »wir hätten gar nicht rennen müssen. Ich habe dir gesagt, dass er im Park niemanden tötet. Das würde nur den Verkehr aufhalten.«
»Das hat ihn sonst auch nicht davon abgehalten«, erklang die Antwort.
Grace drehte den Kopf und erblickte zwei Herren, die herbeieilten. Einer der Herren war groß und breit und hatte dichtes rotbraunes Haar und eine laute Stimme. Der andere war kleiner, dicker und kahler, und seine Brille rutschte ihm die Nase herunter. Sie waren in Kates Begleitung und führten ihre Pferde am Zügel.
»Er ist ja inzwischen auch viel älter«, sagte der Größere von beiden. »Er hat nicht mehr die Energie. Im Übrigen weiß er, dass Grasflecken nur sehr schwer aus der Hose zu entfernen sind.«
»Wann war ich je so weit, mir über Grasflecken Gedanken zu machen?«, fragte Diccan. »Nein, dieser junge Gentleman hat gerade meine Einladung angenommen, morgen bei Jackson gegen mich zu boxen. Ist es nicht so?«
Der Junge wurde noch bleicher, und Grace wusste, dass Diccan sich die perfekte Bestrafung ausgesucht hatte. Es war nicht nur eine öffentliche Demütigung, sondern es gab dem Jungen auch Zeit, sich Gedanken über sein Verhalten zu machen, durch das es so weit gekommen war. Diccan hatte dem Jungen wirklich Angst gemacht. Er schwitzte, und Grace wusste, warum. Diccan hatte ihr auch Angst eingejagt.
In diesem einen Moment – fast zu schnell, um es erfassen zu können – waren seine Augen gespenstisch leer gewesen. Der kultivierte Gentleman, den sie kennengelernt hatte, war verschwunden, und jemand ganz anderes war an seine Stelle getreten. Jemand, der so hart und unbarmherzig wie der Tod war. Jemand, den sie nicht kannte.
Plötzlich fragte sie sich, ob sie ihren Ehemann überhaupt kannte. Selbst wenn er noch so wütend war, hatte sie diese Seite an ihm bisher noch nie erlebt. Diese Seite, bei der sie dachte, er könnte sein Gegenüber mit seinem bloßen Blick körperlich verletzen. Ja, er hatte sie alle ganz knapp aus dem vom Krieg erschütterten Belgien herausgebracht und vor einem Mörder gerettet. Sie hatte immer geglaubt, er hätte dazu seine diplomatischen Fähigkeiten eingesetzt. Zum ersten Mal fragte sie sich nun, ob das die Wahrheit war.
»Grace«, sagte Lady Kate, »ich habe noch jemanden mitgebracht.«
Und mit einem eisigen Blick zu dem blassen Pärchen drehte Lady Kate den beiden demonstrativ den Rücken zu. Grace sah, wie das Mädchen wankte. Ohne ein weiteres Wort flohen sie und ihr Freund.
»Lass mich dir Diccans besondere Freunde vorstellen«, sagte Kate. »Viscount Charles Wilde und Mr. Ian Ferguson. Meine Herren, das ist meine liebe Freundin Mrs. Grace Fairchild Hilliard.«
Sie begrüßten einander. »Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Ma’am«, sagte Viscount Wilde. Sein Kopf wippte so
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