Luther. Die Drohung
antun.«
Luther lässt das unkommentiert. Er fragt: »Sag mal, wie sieht’s aus
mit deinem Arbeitspensum?«
»Nicht zu bewältigen.«
»Irgendwas Dringendes?«
»Na ja, kommt drauf an, was du mit dringend meinst.«
»Ich meine, dass ich deine Hilfe bei einem wirklich üblen Fall
brauche. Wenn ich meine Chefin bitte, deinen Chef zu fragen, ob ich dich
ausleihen kann, wie wäre das?«
»Bin schon dabei, meine Sachen zu packen«, antwortet Benny.
4
Bis gestern war Anthony Needham Tom Lamberts Partner in
einer kleinen Zwei-Mann-Beratungsstelle in der Nähe des Clissold Parks.
Needham ist Mitte dreißig, trägt ein bordeauxrotes Hemd,
maßgeschneidert, und eine graue Hose, das Haar akkurat gegelt. Er ist
braungebrannt, durchtrainiert und sportlich. Teure Uhr. Er entspricht nicht im
Geringsten Luthers Vorstellung von einem Therapeuten. Neben ihm fühlt Luther
sich schmutzig und krank.
Das Zimmer ist so eingerichtet, dass es gemütlich wirkt: drei
bequeme Sessel in einem Halbkreis, niedrige Bücherregale. Ein Schreibtisch,
leer bis auf einen Laptop und ein paar gerahmte Fotos von Needham, wie er an
einem Ironman-Triathlon teilnimmt: Er rennt mit einem Mountainbike auf der
Schulter, verzieht gequält das schlammverschmierte Gesicht.
Needham macht das Fenster auf, es klemmt und lässt sich nur schwer
öffnen. Stadtgeräusche dringen zu ihnen herein, der Geruch des Verkehrs und der
Geruch des Winters.
Luther schlägt die Beine übereinander und faltet die Hände auf dem
Schoß, um die nervliche Anspannung unter Kontrolle zu bringen. Howie beobachtet
Needham mit stillem Ernst. Sie hat ihr Notizbuch vor sich und einen Stift in
der Hand.
Needham öffnet die unterste Schreibtischschublade und holt ein platt
gedrücktes, ramponiertes Päckchen Zigaretten heraus. Er kramt in der Schublade
herum, bis er ein Einwegfeuerzeug findet. Dann zündet er sich eine Zigarette an
und nimmt einen Zug.
Er muss trocken würgen und tut dies diskret, lehnt sich mit der
Zigarette zwischen zwei Fingern ans Fensterbrett.
Er drückt die Zigarette nach dem einen Zug aus, kommt bleich und
triefäugig zurück. Er setzt sich in den dritten bequemen Sessel, verschränkt
die Hände auf dem Schoß.
Luther lässt ihm Zeit, es zu begreifen. Blättert eine Seite in
seinem Notizbuch um, gibt vor, einen früheren Eintrag zu lesen.
»Mein Gott«, sagt Needham schließlich. Er ist Australier.
»Tut mir leid«, sagt Luther. »Ich weiß, es ist schwer zu verarbeiten.
Aber leider sind diese ersten paar Stunden nach der Tat entscheidend.«
Needham reißt sich zusammen. Luther gefällt das.
Needham schluckt, dann löst er die Finger und macht eine Geste, die
so viel bedeutet wie: Fragen Sie ruhig.
»Also«, beginnt Luther. »Sie haben hier mit einigen schwer
verhaltensgestörten jungen Leuten zu tun. Gewalttätigen Leuten, vermutlich.«
»Sie wissen doch, dass das unter die ärztliche Schweigepflicht
fällt?«
»Ja, das weiß ich.«
»Dann weiß ich nicht, was Sie von mir hören wollen.«
»Ganz allgemein – wissen Sie, ob Mr Lambert wegen eines seiner
Patienten besorgt war?«
»Nicht mehr als sonst.«
»Was heißt das?«
»Sie haben es selbst gesagt. Wir haben mit vielen
verhaltensgestörten jungen Leuten zu tun.«
»Kann ich in dieser Sache ehrlich zu Ihnen sein? Das war kein
zufälliger Angriff. Das war ein sehr gewalttätiges, sehr persönliches
Verbrechen.«
Needham ändert die Position in seinem Sessel. »Ich kann Ihnen nur
sagen, dass Tom wegen einiger seiner Patienten in erhöhter Besorgnis war.«
»Besorgnis welcher Art?«
»Würde eine Beratung ihnen tatsächlich helfen? Könnte er sie tatsächlich
davon abbringen, andere zu schikanieren? Würde einer von ihnen einmal zu oft
die Beherrschung verlieren?«
»Kommt das vor? Verlieren sie hier drin die Beherrschung?«
»Es handelt sich um wütende junge Männer. Selbstbeobachtung liegt
nicht in ihrer Natur, aber wir ermutigen sie, sich schwierigen persönlichen
Problemen zu stellen. Das kann hart sein.«
»Probleme wie Gewalttätigkeit?«
»Und üblicherweise die Geschichte der Misshandlung, die dazu geführt
hat.«
»Viele Kinder werden misshandelt«, sagt Luther. »Das gibt ihnen
nicht das Recht, anderen wehzutun.«
»Das hat auch niemand gesagt.« Needham reagiert so unendlich
geduldig wie jemand, der diesen Einwand schon tausendmal gehört hat. »Im Leben
geht es um Entscheidungen. Wir versuchen, ihnen das Handwerkszeug zu geben, um
bessere Entscheidungen zu
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