Luther. Die Drohung
zieht ein weiteres Foto aus der Mappe. Er hält es hoch.
»Erkennst du dich?«
Der Junge kneift die Augen zu. Weigert sich, hinzusehen.
Luther steht auf. Er hält das Foto dicht vor die Augen des Jungen.
»Das bist du«, sagt er. »Oder warst du.«
Der Junge ballt so fest die Fäuste, dass seine Haut weiß wird.
Stellenweise leuchtend purpurrot.
»Die DNA-Analyse wird es beweisen«, sagt Luther leise und
nachdrücklich. »Wir wissen, was er dir angetan hat, dein Dad. Und wir wissen,
dass du versucht hast, ihn aufzuhalten. Zweimal. Und das hast du nun davon.
Also warum hilfst du uns nicht? Warum hilfst du Mia nicht?«
Noch immer keine Antwort.
Nichts als Spitzen und Zacken auf dem Herzfrequenzmesser.
Luther tauscht einen Blick mit Howie.
Luther tappt zur Tür. Er öffnet sie, streckt den Kopf um die Ecke.
Flüstert: »Okay. Sie können jetzt reinkommen.«
Sie warten lange.
Die Augen des Jungen sind auf die Tür gerichtet, als Christine
James, die während ihrer Ehe York hieß, ins Zimmer trottet.
Ihr Gesicht ist eingefallen, voller Falten und feiner Furchen. Sie
zwirbelt den Riemen ihrer Handtasche mit beiden Händen. Sie zittert so heftig,
dass die Opferschutzbeamtin sie stützen muss.
Luther weicht Howies anklagendem Blick aus.
Patrick beginnt zu beben. Er stößt ein leises Wimmern aus und schaut
weg.
Er sagt: »Tut mir leid, Mum. Es tut mir leid, Mum. Es tut mir leid,
Mum.«
Adrian York hatte das Fahrrad zum Geburtstag bekommen. Es
war ein Samstagvormittag. Beinahe Mittagszeit. Er und Jamie Stuart waren im
Skateboardpark herumgefahren; man konnte ihn vom Haus aus sehen. Seine Mum
passte vom Schlafzimmerfenster aus auf.
Adrian wollte allein raus, weil er ein großer Junge war.
Jetzt ist Jamie Stuart nach Hause gegangen, und Adrian sitzt auf dem
Bordstein am Rand des Platzes, das Fahrrad ist an einen Laternenpfahl gelehnt.
Er kann den Garten hinterm Haus sehen. Er trinkt eine Dose Fanta. Er fühlt sich
ziemlich gut. Er ist sechs Jahre alt.
Ein Lieferwagen nähert sich. Der besorgt aussehende Fahrer steigt
aus und läuft über die leere Straße. Er fragt: »Kumpel – wie heißt du?«
»Adrian.«
»Adrian und wie weiter?«
»Adrian York.«
»Gut. Ich dachte schon, dass du es sein musst.«
»Warum?«, fragt Adrian York.
»Tut mir leid, Kumpel. Es gab einen Unfall. Komm am besten mit mir
mit.«
Der Mann atmet komisch. Als Adrian zögert, leckt der Mann sich über
die Lippen und sagt: »Man hat mich geschickt, um dich zu deiner Mum zu bringen.
Steig lieber ein.«
»Lieber nicht«, sagt Adrian York.
»Deine Mum könnte sterben«, sagt der Mann. »Du solltest dich lieber
beeilen.«
Adrian York blickt zum Fenster. Er sieht, dass seine Mum nicht dort
ist, wo sie sein sollte, um auf ihn aufzupassen. Er fragt sich, ob der Mann die
Wahrheit sagt.
Er fängt an zu weinen.
»Ich krieg Ärger, wenn ich ohne dich zurückkomme«, sagt der Mann.
»Die Polizei hat mich geschickt, um dich zu holen. Wir kriegen beide mächtig
Ärger.«
»Was ist mit meinem Fahrrad?«, fragt Adrian York.
Aber der Mann antwortet nicht. Er nimmt Adrian York einfach in die
Arme und trägt ihn zum Lieferwagen.
Eines der Bremslichter ist zerbrochen.
Die Opferschutzbeamtin, Luther und Howie warten in den
Ecken des Zimmers wie Leichenbestatter.
Sie gewähren Christine James ein paar Minuten mit ihrem Kind. Es
sind ein paar Minuten mehr, als sie verkraften kann.
Sie umklammert Adrians Hand, drückt sie, presst sie an ihr Gesicht.
Sie weint, tief erschüttert und verstört. Sie ruft Gott an. O Gott, sagt sie. O
Gott, o mein Gott, o mein Gott, o mein Junge, mein Junge, mein Junge.
Adrian liegt da. Er kann nichts sagen als: »Tut mir leid, Mum. Tut
mir leid, tut mir leid, tut mir leid.«
Irgendwann führt die Opferschutzbeamtin eine trottende,
fassungslose Christine James aus dem Zimmer zurück ins Krankenhauslicht.
Luther spürt Howies Blick auf sich.
Er glüht vor Scham.
Dann kehrt er sacht an Adrians Seite zurück.
»Wie heißt er?«, fragt er. »Wie heißt er wirklich?«
Nach langer Zeit flüstert der Junge: »Henry.«
»Henry und wie weiter?«
»Clarke. Nicholl. Brennan.«
»Aber immer Henry?«
Der Junge bewegt den Kopf. Es ist beinahe ein Nicken.
»Aber du musst es wissen«, sagt Luther. »Nach all den Jahren musst
du seinen richtigen Namen kennen.«
»Madsen.«
Henry
Madsen.
Luther juckt es in den Fingern. Er will sich einen Stift schnappen,
sein Notizbuch herausholen, den Namen aufschreiben, einkreisen,
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