Luther. Die Drohung
auf andere Art anzugehen.«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Ich meine, was, wenn er von den Beschwerden der Mutter wusste?«
»Chrissie York.«
»Was, wenn er von Chrissie Yorks Beschwerden beim Sozialamt wusste?
Was, wenn er wusste, dass sie nicht ernst genommen wurden? Wenn er das wusste, wusste er auch, dass er den York-Jungen direkt von der Straße mitnehmen
könnte. Und wenn er schnell genug ist und niemand es sieht … würde niemand
glauben, dass es überhaupt geschehen ist.«
»Was es zur perfekten Entführung macht«, sagt Howie. »Aber das
ändert nichts an der Tatsache, dass er fünfzehn Jahre lang darüber geschwiegen
hat wie ein Grab. Warum fängt er also jetzt an, Radiosender anzurufen?«
»Ich weiß nicht«, antwortet Luther. »Vielleicht, weil das mit Adrian
York gut gegangen ist und das mit den Lamberts nicht?«
»Inwiefern nicht? Er hat das Baby.«
»Kommt drauf an, was er damit wollte. Aber vielleicht ist es ihm
peinlich. Er verspürt das Bedürfnis, zu rechtfertigen, was er getan hat.«
»Aber warum verspürt er dieses Bedürfnis jetzt?«
»Weil er ein Psychopath ist. Er hat weder Scham- noch Schuldgefühle.
Er steht darüber. Er ist einzigartig. Er schaut auf uns herab. Er verabscheut
uns. Aber es ist ihm wichtig, dass wir wissen , dass er besser
ist als wir. Er braucht unsere Bewunderung.«
Auf dem Weg zum Auto ruft er Teller an. Er bittet sie, sich mit der
Polizei von Avon und Somerset in Verbindung zu setzen, damit sie einen Kurier
mit den Akten der ungelösten Fälle Adrian York und Thomas Kintry
herüberschicken.
Er fragt nach den Kontaktdaten von Detective Inspector Patricia
Maxwell, vermutlich pensioniert.
Er ruft Ian Reed zu Hause an und bittet ihn, Maggie Reillys alte
Reportage zu überfliegen und zu schauen, ob ihm irgendetwas relevant oder
sonderbar vorkommt.
Das sind alles Schüsse ins Blaue: Der York-Fall ist fünfzehn oder
sechzehn Jahre alt. Aber es müssen alle Möglichkeiten überprüft werden.
Dann ruft er Zoe an und bittet sie, sich mit ihm zu treffen.
10
Luther geht durch einen abendlichen Schwarm Aktentaschen,
Regenschirme, Nadelstreifenanzüge und Taxis, dann betritt er den Postman’s
Park. Er geht durch den eisigen Regen, bis er eine lange, hölzerne Galerie
erreicht, die eine mit Keramikfliesen dekorierte Mauer überdacht.
Während er wartet, liest er, was auf einigen Fliesen geschrieben
steht. Schöpft daraus einen seltsamen Trost:
Elizabeth
Coghlam, 26 Jahre, wohnhaft Church Path, Stoke Newington. Starb, als sie ihre
Familie und ihr Haus rettete, indem sie brennendes Paraffin in den Hof trug. 1. Jan. 1902
Tobias
Simpson, gestorben an Erschöpfung, nachdem er viele Menschen vom einbrechenden
Eis auf den Highgate Ponds rettete, 25. Jan. 1885
Jeremy
Morris, 10 Jahre, badete im Grand Junction Canal. Opferte sein Leben, um seinem
ertrinkenden Kameraden zu helfen, 2. Aug. 1897
Die Heldentafel heißt »Das Denkmal der heroischen
Selbstopferung«. Im viktorianischen Zeitalter wusste man noch, wie man Dinge
benennt.
Er dreht sich um und Zoe ist da, zitternd und nass trotz ihres
Mantels, sie hält zwei Pappbecher mit Kaffee in den Händen.
»Ich hab die Nachrichten gesehen«, sagt sie.
»Tja.« Er nimmt einen Kaffee. »Schlimmer Tag.«
Sie stehen nebeneinander, lesen die Inschriften. Nippen am Kaffee.
»Lebt das Baby?«, fragt sie.
»Ich weiß es nicht. Ein Teil von mir hofft nein.«
»Kommst du heute Nacht nach Hause?«
»Ich kann nicht. Rose hat mich gebeten, länger zu bleiben.«
Eigentlich hat Teller ihm befohlen, nach Hause zu gehen und ein
wenig zu schlafen.
Er wird nicht gebraucht: Sie holen Leute aus dem Genesungsurlaub.
Speziell ausgebildete Überwachungseinheiten werden die Krankenhäuser,
Ambulanzen und Notunterkünfte beobachten. Jetzt gerade sind Hunderte von Bullen
da draußen, die darauf warten, dass Pete Black irgendwo in Londons düsterem
Gesicht auftaucht, ein Baby in den Armen, lebendig oder tot.
»Ist das okay für dich?«, fragt Luther.
»Mir macht das nichts aus«, antwortet sie. »Ein Glas Wein, Arbeit
nachholen. Ich hab heute zwei Stunden mit diesen Scheißschulkindern verbracht.«
»Schließ die Türen und Fenster ab«, sagt er. »Schalte den Alarm ein.
Schieb die Riegel vor. Bei der Vorder- und Hintertür.«
»Ich schließe die Türen und Fenster immer ab.«
»Ich weiß.«
»Warum sagst du es dann?«
»Damit ich mich besser fühle.«
»Genau das ist das Problem dabei«, sagt sie. »Du verbringst
Weitere Kostenlose Bücher