Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
der
Kassette? Sie fing an, jede einzelne Akte, jeden einzelnen Folianten in
dem Schrank unter die Lupe zu nehmen. Auch achtete sie darauf, ob das
rote Buch vielleicht nicht weiter hinten in den Regalen lag. Doch keine
Spur davon. Nichts. Ratlos blickte sie auf die Stahlkassette. Das Buch
musste dort drin sein!
Ben sagte: »Normalerweise kommt das nicht vor, aber vielleicht ist das
Ding ja nicht verschlossen.« Er nahm die Kassette aus dem Schrank,
legte sie auf dem Boden ab und versuchte sie zu öffnen. Fehlanzeige. Sie war verschlossen.
Halt – Catherine riss die Augen auf. Was, wenn sie wirklich nur diesen
einen Schlüssel brauchten? Der Schlüssel hatte Benelli gehört. Was
wenn er zwei in einem vereinte?
Sie kniete sich vor die Kassette und steckte den Schlüssel in das
schmale, eingelassene Schloss. Der Deckel sprang mit einem dumpfen
Klack auf. Catherine schnappte nach Luft.
Ein Brief! Und darunter …
Benellis rotes Buch!
60.
Der Meister stand in der Sixtinischen Kapelle, der großen Kapelle des
Apostolischen Palastes, und sog die von den Wänden, der Decke und
dem Boden ausgehende Spiritualität ein. Der rechteckige, etwa zwanzig
Meter hohe Raum war in seinen Ausmaßen an den legendären
historischen Tempel des Salomon angelehnt. Der Blick des Meisters verharrte für eine Weile auf Michelangelos Fresko vom Jüngsten
Gericht . Sechs Jahre hatte der geniale Künstler gebraucht, um es fertigzustellen. Das Fresko zeigte Christus und die Gottesmutter Maria,
von Seligen und Engeln umgeben. Wie Gott der Vater das Licht von der
Finsternis getrennt hatte, so trennte nun Christus das Gute vom Bösen.
Das Werk stellte das Ende der Menschheitsgeschichte dar.
Der Meister verehrte diesen Ort. Er suchte ihn vor allem dann auf, wenn
er eine Antwort auf eine kaum lösbare Frage benötigte. Noch nie hatte
die Sixtina ihn diesbezüglich im Stich gelassen. In Ruhe schritt er die
Nordwand der Kapelle entlang, bis er die Eingangswand mit der
Auferstehungsszene erreichte. Die Auferstehung …
Fast war es, als wäre Leo wieder von den Toten auferstanden. Nichts
hatte während des gemeinsamen Essens darauf hingedeutet, dass der
Papst physisch wie psychisch entkräftet war. Ganz im Gegenteil. Auch
hatte der Meister jeden Anwesenden während des Mahls beobachtet.
Keiner der anderen Kardinäle, die er in Verdacht gehabt hatte, schien
etwas mit Leos Genesung zu tun zu haben. Nicht mal Ciban.
Woher also empfing der Papst diese neugewonnene Kraft?
Wieder dachte der Meister an eine vorzeitige und damit außerordentliche
Wiederbelebung des Zwölferbundes. Doch das konnte unmöglich so
schnell erfolgt sein, innerhalb weniger Wochen und Monate. Er erinnerte
sich nicht, dass in der zweitausend Jahre alten Geschichte des Bundes
solch ein Vorfall auch nur ein einziges Mal erwähnt worden war. So
hatte auch Clemens VII. über mehrere Jahre mit gerade einmal sieben
Spiritualen auskommen müssen, nachdem fünf seiner Berater bei der
Plünderung Roms ums Leben gekommen waren.
Also gut, wenn schon keine Wiederbelebung des Bundes, was war dann
die Ursache für die unerklärliche Genesung des Heiligen Vaters?
Der Meister wechselte die Seite und schritt nun in Gedanken die
Südwand der Sixtina mit Szenen aus dem Leben Mose entlang.
Leo selbst besaß keine medialen Kräfte, so viel stand fest. Auch
Innozenz war in dieser Hinsicht völlig unbedarft gewesen. Die
übermenschliche Kraft, die ein Papst für sein schweres Amt benötigte,
verdankte er dem Bund der Zwölf. Ihre spirituelle Energie erweiterte
sein Bewusstsein, war seine eiserne Stärke. Aber auch seine große
Schwäche.
Der Meister hatte über die Chroniken sehr schnell herausgefunden, dass
der Bund zu einer starken psychischen wie physischen Abhängigkeit
führte. Fielen mehrere der Spiritualen weg, etwa wenn sie eines
unnatürlichen, gewaltsamen Todes starben und ihre Energien nicht mehr
an den Rest des Bundes weitergeben konnten, so verspürte der
betreffende Papst den Verlust auf eine äußerst brutale und schmerzvolle
Weise mit zum Teil ruinösen Folgen. Dass Leo Sylvesters und Isabellas
Tod noch halbwegs unbelastet weggesteckt hatte – es gab eine mentale
Sicherheitszone –, hatte den Meister nicht weiter erstaunt. Doch
spätestens nach Darius’ und Silvias Ableben hätte der Pontifex kaum
mehr aus eigener Kraft regierungsfähig sein dürfen, was hieß, bestenfalls noch so, dass er auf seine weltlichen Berater angewiesen
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