Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
Verzweiflung durch das
Dorf, als ein herbeilaufender Junge ihn an der Schulter streifte. Voller Erbitterung, aber ohne Absicht sprach er: »Du sollst auf deinem Weg
nicht weitergehen.« Sogleich fiel der Junge hin und starb. Es war das
erste und einzige Mal, dass einer der unseren einem Menschen das Leben
nahm. Bis zu jenem Tag war sich keiner von uns der Kraft bewusst, die
in uns wirkte. Jesus fiel über den Tod des Jungen in so tiefe Trauer, dass er darüber die Angst und den Zorn über sein eigenes Schicksal für eine
Weile vergaß.
Ich war der Dritte, der sich erinnerte. An jenem Tag, als der Junge starb, erkannte ich mein Schicksal, und ich vermochte es nicht zu fassen. Ich
hatte das Los des Verräters gezogen. Oder erwählte das Los des
Verräters etwa mich?
Nach und nach entsannen sich die anderen ihres Auftrags. Simon Petrus
war der Vierte. Dann kamen Andreas, Jakobus und Johannes. Schließlich
stießen Philippus und Bartholomäus zu uns. Dann folgten all die
anderen. Wie die Flüsse ins Meer streben, so strebten wir nach und nach
zusammen, um zu jener Einheit zu werden, die die Offenbarung unter die
Menschen brachte und Gottes Plan erfüllte.
Maria gemahnte uns oft daran: Wir alle sind Gottes Werkzeug. Wir alle
setzen seinen Plan um. So soll es sein.
So erfüllten wir unsere Pflicht, nachdem wir unsere Bestimmung und
unsere Gabe erkannt hatten. Wir verließen unsere Heimat und unsere
Familien, wir gingen hinaus und predigten, die Menschen sollten Buße
tun, wir trieben viele böse Geister aus, salbten unzählige Kranke mit Öl und machten sie gesund. Wir speisten Jesus, der das Los des Lammes
gezogen hatte, mit der uns von Gott verliehenen Energie, auf dass er
Blinde sehend, Lahme gehend machen und Tote wieder zum Leben
erwecken konnte. Denn eines war uns klar: Worte sind den Menschen
nicht genug. Sie müssen hin und wieder auch Taten und Wunder sehen.
Der Wunder gab es zu jener Zeit genug. Sie halfen, das Licht zu
verbreiten.
So wirkten wir viele Jahre unter den Menschen, reisten, verkündeten den
rechten Weg und heilten, bis zu jenem Tag, an dem ich mein elendes Los
zu erfüllen hatte, das Los des Verräters.
Ja, es ist wahr. Ich habe Jesus in jener Nacht verraten. Ich musste den
Körper opfern, der seine Seele umhüllte, um den Plan Gottes zu erfüllen.
Die Erlösung der Menschheit hatte eines Verräters bedurft.
Ohne Verrat keine Kreuzigung!
Ohne Kreuzigung keine Auferstehung!
Ohne Auferstehung keine Erlösung der Menschheit!
63.
Catherine bemerkte, wie sich die sie umgebende Realität plötzlich teilte.
Sie befand sich nach wie vor im ›Turm der Winde‹, sah zu, wie Ben im
Evangelium des Judas gebannt weiterlas, gleichzeitig blickte sie aber
auch über die Schulter eines verzweifelten Judas Ischariot, der sein
Zeugnis in aller Eile schrieb, als müsste er noch diese Nacht damit fertig werden. Im Grunde erlebte sie gerade, was ihr Freund in dem alten Buch
einfach nur las.
Sie nahm auch Judas Ischariots Aura wahr. Ein strahlendes Blau-Weiß,
das von vielen feinen blutroten Linien durchzogen war. Weiter sah sie,
wie Judas an Jesu Seite schritt, als der einzige Mensch neben Maria und
Jesus, der die wahre Bedeutung des Willen Gottes verstand. Catherine
hatte vor Augen, wie er predigte, lehrte und heilte und wie er seine
Energie, ebenso wie die anderen Gesandten, mit Jesus teilte, damit sie
ihre Wunder als Bund der Zwölf vollbringen konnten.
Die Szenerie wechselte, und nun erlebte Catherine mit, wie Judas zu den
Hohepriestern und den Schriftgelehrten ging, die Jesus beschuldigten,
das Volk aufzuwiegeln. Im Hause des Hohenpriesters Kajaphas
versprach Judas, für dreißig Silberlinge bei der Gefangennahme seines
Herrn behilflich zu sein. Kajaphas und seine Gefährten hatten keine
Ahnung, dass sie im Grunde nur ein Instrument Gottes waren.
Der Schauplatz wechselte erneut, und Catherine sah, dass Judas heimlich
Zeuge der Kreuzigung Jesu gewesen war. Während die Passah-Lämmer
geschlachtet wurden, schlug man den Gesalbten ans Kreuz. Wie Maria
war Judas nicht einen Moment von Jesu Seite gewichen.
Jetzt nahm Catherine drei Realitäten wahr. Sie sah Ben, der in dem
Judas-Evangelium las, außerdem Judas, der das Evangelium schrieb, und
Judas, der heimlich der Kreuzigung Jesu beiwohnte und wie Maria
dessen Schmerz teilte.
Während Judas an seinem Zeugnis schrieb, tauchte eine weißgewandete
Gestalt wie aus dem Nichts neben ihm auf.
»Die Menschen
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