Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
hypnotischer Kraft.
»Ihr seid das Salz der Erde. Wenn es schal geworden ist, womit soll man
es salzen? Es taugt zu nichts weiter, als dass es hinausgeworfen und
zertreten wird von den Menschen. Ihr seid das Licht der Welt. Es kann
eine Stadt nicht verborgen bleiben, die oben liegt auf dem Berge. Auch
zündet man nicht eine Lampe an und stellt sie unter den Scheffel,
sondern auf den Leuchter, damit sie allen leuchtet, die im Hause sind …«
Sie blickte sich vorsichtig um. Immer mehr Menschen kamen herbei, um
dieser Stimme, diesen Worten, zu lauschen. Die Menschen hörten so
gebannt zu, als wären sie ein einziges wissensdurstiges Volk.
»Denkt nicht, ich sei gekommen, das Gesetz oder die Propheten
aufzuheben. Ich bin nicht gekommen aufzuheben, sondern zu erfüllen.
Denn wahrlich, ich sage euch, bis der Himmel und die Erde vergehen,
wird nicht ein einziges Jota oder ein einziges Häkchen vom Gesetz
vergehen, bis alles geschehen ist …«
»Bist du überrascht?«, fragte der Alte neben Catherine.
Sie blickte ihn verdutzt an. Grundgütiger, sie kannte diesen Mann
wirklich, aber sie konnte sich noch immer nicht erinnern.
»Sie sagen, er sei der Gesalbte«, fügte er hinzu. »Was denkst du?«
Was sollte die Frage? Es gab keinen Zweifel. Nicht für sie. Genauso
wenig wie für all die anderen Menschen hier. Nicht in diesem
Augenblick. Dennoch hatte sie Angst, und sie sagte es.
»Angst? Wovor?«, fragte der Alte. »Der Kelch, der ihm gereicht wurde,
wird an dir vorübergehen. Du bist noch nicht einmal geboren.«
Catherine starrte den alten Mann mit den lebhaften Augen und dem
schlohweißen Haar neugierig an. »Ich kenne Sie. Ich habe Sie irgendwo
schon einmal gesehen.«
Der alte Mann lächelte. »Ja, aber das liegt noch weit in der Zukunft.«
Catherine wandte sich verwirrt von ihm ab und lauschte wieder den
Worten, die von dem Berg herunterkamen.
»Ich aber sage euch, streitet nicht mit dem Bösen, sondern wenn einer
dich auf deine rechte Wange schlägt, so halte ihm auch die andere
Wange hin …«
Der alte Mann stellte fest: »Die Priester nennen ihn einen Lügner. Dabei fürchten sie nichts mehr, als dass er tatsächlich im Namen des Himmels
spricht. Du weißt, Johannes hat ihn im Namen des Himmels getauft.«
Catherine hatte ihre Aufmerksamkeit irgendwie geteilt, halb der Predigt
gelauscht und halb den Worten des Alten. »Sie reden, als hätten Sie das
alles schon einmal erlebt.«
Der Alte nickte wissend. »Drei Kreuze standen auf dem Kalvarienberg .
Eines der Kreuze hat ihn gehalten. Als sein Blut vom Kreuz tropfte,
zersprang der Fels. Danach kam das Erdbeben.«
Catherine beugte sich in der zunehmenden Dunkelheit zu dem Alten
hinüber, doch als sie sich fast an ihn erinnerte, wechselte die sie
umgebende Szenerie.
Plötzlich blickte sie auf eine Kirchturmuhr, stand auf der obersten Stufe des dreihundert Jahre alten Brunnens der Piazza der Basilika Santa Maria in Trastevere, Rom. Die Hitze und Schwüle machten ihr zu schaffen.
Horden von Touristen strömten, mit Kameras und handlichen
Reiseführern bewaffnet, in die mittelalterliche Basilika hinein und
wieder hinaus. Die vier Papst-Statuen, die die Balustrade über dem
Haupteingang schmückten, schienen die Menschenmassen zu begrüßen.
Catherine wusste, dass die Basilika der Legende nach im dritten
Jahrhundert von Papst Kallistus I. gegründet worden war, errichtet über
einer Kultstätte, in der die frühen, von Kaiser Nero verfolgten Christen sich heimlich versammelt hatten. Zu dieser späten Nachmittagsstunde
nahm sie die mittelalterliche Pracht des Sakralbaus mit seinem aus dem
zwölften Jahrhundert stammenden Glockenturm und seinen kunstvollen
Fassadenmosaiken jedoch kaum mehr wahr. Sie holte tief Luft und zog
sich den Strohhut, den sie als Sonnenschutz trug, tiefer ins Gesicht. Und jetzt? Was würde nun passieren, nachdem der alte Mann sie hierher
versetzt hatte? Sie seufzte und warf einen Blick auf die Uhr der Basilika.
Viel zu spät für ihren Geschmack.
Etwas zupfte an ihrer Jeans. Sie drehte sich um und überlegte, ob einer
der auf den Stufen des achteckigen Sockels sitzenden Jugendlichen
tatsächlich so unverschämt war, ihr an die Wäsche zu gehen. Ein kleiner
Junge, vielleicht zehn Jahre alt, drückte ihr einen Zettel in die Hand und war schneller wieder in der Menge verschwunden, als sie nach ihm hätte
greifen können.
Catherine faltete den Zettel auseinander. Ein Grundriss. Nein, mehr als
ein
Weitere Kostenlose Bücher