Lux perpetua
Verräter werden, ja?« Reynevan senkte die Stimme. »Der Inquisition Informationen über die Mission zuspielen,
mit der mich Prokop gesandt hat? Darauf spekulieren, dass mir eine zutiefst dankbare Inquisition dafür Jutta wiedergibt. Das
rätst du mir?«
»Ich überlasse die Entscheidung dir. Nachdem du überlegtund beurteilt hast, wessen Interessen in deiner Hierarchie höher stehen. Was ist dir wichtiger: der Kelch oder Jutta? Denk
darüber nach, und dann entscheide
. . .
«
»Es ist genug, Scharley«, unterbrach Samson Honig ihn sanftmütig. »Schluss damit. Fordere Reynevan nicht zu Überlegungen auf,
die keinen Sinn machen. Und stelle ihn nicht vor die Wahl, wenn er gar keine Wahl hat.«
Der Mond verbarg sich hinter den Dächern der Häuser von Kaufleuten. Reynevan ging mutig und mit großen Schritten, er hastete
zum Areal an den Wällen.
Er bog in einen Durchlass ein. Anstatt jedoch weiterzugehen, verbarg er sich lautlos in einer Tornische. Er wartete, regungslos
und geduldig.
Nach einer Weile drang das Geräusch von leisen Schritten an sein Ohr; das gedämpfte Schurren von Schnabelschuhen auf dem Pflaster
war kaum zu hören. Er wartete, bis der Mann, der ihm gefolgt war, aus der Dunkelheit hervortrat. Dann sprang er auf ihn zu,
packte von hinten die Kapuze und zog mit aller Kraft daran. Der Mann keuchte und griff sich mit seinen Händen an den Hals.
Reynevan stieß ihm den umwickelten Griff seines Messers in die Rippen, zwei Handbreit über der Hüfte. Der Wehrlose schnappte
nach Luft und verschluckte sich. Reynevan drehte ihn mit einem Ruck an der Schulter zu sich herum, holte aus und rammte ihm
den Knauf seines Messers mit höchster medizinischer Kunst in den
plexus solaris,
mitten hinein. Der Mann mit der Kapuze röchelte und fiel auf die Knie.
Irgendwo hoch oben auf dem Dach miaute eine Katze.
»Sag Prokop
. . .
«, Reynevan hob mit der Klinge des Messers das Kinn des Knienden an, »sag Prokop, dass ich noch einmal auf das Kreuz schwören
kann. Ich kann auch noch ein paar Mal schwören. Aber das muss genügen. Ich wünsche nicht, dass man mich verfolgt. Den nächsten
Spitzel, den ich erwische, töte ich. Sag das Prokop
. . .
«
»Herr
. . .
«
»Was ist? Lauter!«
»Ich komme nicht von Prokop
. . .
Ich komme vom Schloss
. . .
Auf Befehl
. . .
«
»Auf wessen Befehl? Wer hat dir das befohlen?«
»Seine Hoheit der Prinz.«
Das Dunkel der Burgkapelle wurde lediglich von zwei Kerzen erhellt, die vor dem schlichten Altar standen. Ihr flackerndes
Licht spiegelte sich in Reflexen auf der vergoldeten Heiligenfigur, die wohl den Apostel Matthäus darstellen sollte, weil
ihr ein Schwert beigegeben war. Den im Chorgestühl sitzenden Mann erreichte das Licht gerade noch. Es hob aus dem Dunkel seine
Gestalt, den Schnitt und Details seiner reich geschmückten Kleidung hervor, beleuchtete aber sein Gesicht nicht. Das war auch
nicht nötig. Reynevan wusste, wer er war.
»Sei gegrüßt, Medicus. Berg und Tal kommen nicht zusammen, wohl aber die Menschen. So begegnen wir uns also nach Jahren wieder.
Wie viele sind seit der Schlacht bei Aussig schon vergangen? Drei? Zähle ich richtig?«
»Ihr zählt richtig, mein Prinz.« Der Mann im Chorgestühl richtete sich auf. Das Licht fiel auf sein Gesicht.
Es war Zygmunt Korybut, ein litauischer Prinz aus der von Rurik begründeten Dynastie, von Mindaugas abstammend, der Urenkel
Gedimins, der Enkel Olgerds, der von der aus Rjasan stammenden Prinzessin Anastasia geborene, rechtmäßige Sohn Dimitrij Korybuts,
des jüngeren Bruders von König Władisław Jagiełło, der sich, dem Kindesalter kaum entwachsen, bereits in der Schlacht bei
Grunwald ausgezeichnet hatte. Der wenig mehr als dreißig Jahre zählende Litauer, der unter Polen im Wawelschloss aufgewachsen
war, vereinte in sich in schlechtester Weise Merkmale beider Nationen: Neigung zum rückständigen Denken, Beharren auf einem
gewissen Spießbürgertum, Hang zur Heuchelei, krankhaften Ehrgeiz, Hochmut,Wildheit, ungezügelte Gier nach Macht und die absolute Unfähigkeit zur Selbstkritik.
Der Prinz sah unter der ihm bis in die Stirn fallenden Haartolle hervor Reynevan an, Reynevan sah den Prinzen an. In diesen
kurzen Augenblicken zogen an Reynevans innerem Auge blitzschnell die Bilder der kurzen, aber stürmisch verlaufenden Karriere
des Prinzen vorüber.
Die hussitischen Böhmen hatten den Luxemburger für abgesetzt erklärt und benötigten einen neuen
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