Lux perpetua
Stadt übertönend. »Such nicht
den Tod! Geh zurück zum Tor! Gleich verdrängen sie uns von hier! Pass auf die in den Fenstern auf! Siehst du sie?«
Reynevan sah ihn. Er warf den Spieß weg, nahm seine Armbrust, zielte und schoss. Der Armbrustschütze stürzte aus dem Fenster
im ersten Stock. Reynevan spannte die Armbrust und legte den Bolzen ein.
»Schlagt zu!«
»Auf sie!«
Hinter dem Tor, zwischen den bereits brennenden Häusern, drangen die beiden eisenbewehrten Abteilungen erneut aufeinander
ein, in den Blutlachen einander entgegenschlitternd. Die Waffen krachten mit ihren Holzteilen aufeinander, die Kämpfenden
brüllten, Verwundete schrien. Samson richtete sich plötzlich auf, mit seiner ganzen Statur den Geschützen ausgesetzt.
»Hört ihr das?«
»Was denn?«
»Wir hören nichts!«, brüllte Scharley. »Wir ziehen uns zurück! Prokop schickt uns keine Hilfe! Raus hier, bevor sie uns umbringen!«
»Hört ihr das?«
Zuerst übertönte der Kampfeslärm alles. Aber dann drang auch das an ihre Ohren, was Samson gehört hatte.
Kinderweinen. Schwaches, verzweifeltes Kinderweinen. Aus einem nahe gelegenen Haus, das in Flammen stand.
»Tu’s nicht!«, schrie Scharley und erbleichte. »Das ist dein Tod!«
»Ich muss. Ich kann nicht anders!«
Er lief hinüber. Nach kurzem Zögern stürmten die anderen ihm nach. Reynevan wurde von den sich von ihren Angreifernzurückziehenden Taboriten aufgehalten und steckte in ihrer Mitte fest. Scharley war gezwungen, vor dem Eisenigel der Angreifer
zurückzuweichen. Samson war verschwunden.
Die Taboriten senkten ihre Spieße und Lanzen und drangen mit Gebrüll auf die Verteidiger ein. Die beiden Scharen prallten
heftig aufeinander und spießten sich gegenseitig auf. Blut floss aufs Pflaster.
Und da kam Samson Honig aus dem brennenden Haus gelaufen. In jedem Arm trug er ein Kind. Etwa zehn blasse, schweigende Kinder
liefen hinter ihm her, drängten sich an seine Beine und klammerten sich an seine Rockschöße.
Und plötzlich erstarb in der Straße, die das Schlachtfeld bildete, jede Bewegung, wie bei einer Fackel, die man in den Schnee
getaucht hat. Die Schreie verstummten. Es herrschte Stille, sogar die Verwundeten hörten auf, zu stöhnen.
Der die Kinderschar anführende Samson schritt langsam durch die gerade noch miteinander kämpfenden Scharen hindurch. Er ging,
und die Waffen senkten sich vor ihm herab, wiesen zur Erde. Zunächst nur ganz langsam, dann immer schneller. Die mörderischen
Spitzen der Speere und Spieße, die Klingen der Hellebarden und Partisanen, die dünnen Spitzen der Wurfspieße und Lanzen und
die Bolzen der Armbrüste sanken herab. Sie senkten sich vor Samson, sie verneigten sich vor ihm. Sie erwiesen ihm ihre Ehre.
In völliger Stille.
Durch das Spalier hindurch schritt Samson bis zum Tor. Scharley, Reynevan und ein paar Böhmen liefen herbei, nahmen ihm die
Kinder ab und zogen sie mit sich fort. Samson richtete sich auf und seufzte vor Erleichterung tief.
Als wäre bei den Kämpfenden am Tor der Zauberbann plötzlich gebrochen, warfen sich diese erneut mit Geschrei einander entgegen.
Einer der Schützen am Fenster befestigte den Haken seiner Büchse am Fensterbrett und hielt den glühenden Draht an die Lunte.
Samson schwankte und stöhnte dumpf auf. Er fiel zu Boden. Auf sein Gesicht.
An diesem Sonntag hatte Pater Homolka, der Pfarrer von St. Johannes dem Täufer in Šumperk, die Geschichte von Tobias in Ninive,
des Tobias, der Gott stets treu war, des alten und blinden Tobias, zum Thema seiner Predigt gemacht. Der Pfarrer predigte
darüber, dass des Tobias Sohn, Tobias der Jüngere, vom Vater in die Stadt Rages nach Medien geschickt wurde, und da er Wege
und Stege nicht kannte, wanderte er gemeinsam mit einem von ihm in Dienst genommenen Führer und einem Hund.
Frau Blažena Pospichalova gähnte verstohlen. Als sie ein Seufzen vernahm, schielte sie zu der neben ihr stehenden Marketka
hinüber. Das rothaarige Mädchen, den Mund leicht geöffnet, schien jedes Wort des Predigers in sich aufzunehmen. Sollte sie
etwa das Buch Tobias nicht kennen, hörte sie etwa diese biblische Geschichte zum ersten Mal? Nein, dachte Frau Blažena, sie
mag ganz einfach solche Geschichten, verworrene und zauberhafte Geschichten über Wanderungen und überwundene Widrigkeiten.
Geschichten, Legenden, Märchen – die, obwohl sie schrecklich waren, doch immer ein gutes Ende nahmen. Viele hörten solche
Geschichten
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