Luzie & Leander - 04 - Verblüffend stürmisch
Chantal anschirren und zum Laufen animieren mussten. Chantal stand da wie ein Denkmal, die Augen halb geschlossen, den linken Hinterhuf eingeknickt, und gab keinen Laut von sich. Sie zuckte allenfalls mit den Flanken, um die Fliegen zu vertreiben. Ich bezweifelte, dass irgendetwas auf der Welt sie zum Laufen bringen würde.
Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn Chantal die ganze Woche über hier stehen geblieben wäre. Denn die Familie, der wir zugeteilt worden waren und mit der wir von Ort zu Ort ziehen sollten – mit zwei Wagen war es angeblich sicherer –, gefiel mir überhaupt nicht und ich war überzeugt, dass es Mama und Papa nicht anders erging.
Familie Hempel bestand aus einem dünnen Mann, einer noch dünneren Frau und zwei mageren Kindern, die ununterbrochen trockenes Brot in sich hineinstopften und uns mit großen Augen anstarrten. »Hänflinge«, hatte Mama abfällig gemurmelt, nachdem die Hempels uns begrüßt und ihre verschwitzten Hände gegeben hatten. Ich hätte meine Hand am liebsten weggezogen. »Toter-Fisch-Begrüßung« nannte Seppo solche Handschläge. Man hatte das Gefühl, einen Zombie zu berühren. Am wenigsten gefiel mir aber, wie die Familie uns beobachtete und miteinander tuschelte. Okay, Mama trug ein unmögliches Outfit in zwei verschiedenen Rosatönen samt perlenbesetzten Sandaletten und Papa hatte es sich nicht nehmen lassen, sein »Reisesakko« anzulegen, obwohl es hier noch heißer war als in Deutschland. Es hieß deshalb »Reisesakko«, weil es zu schäbig geworden war, um es im Büro anzuziehen, und erst recht nicht konnte er damit (seiner Meinung nach) Kunden empfangen. Mama hatte sogar Flicken auf die Ellenbogenpartien nähen müssen. Dennoch war es für einen Urlaub im Zigeunerwagen vollkommen unpassend. Aber Papa war eben Papa und Mama war Mama. Klamottentechnisch hatten sie kein glückliches Händchen.
Die Hänflinge hingegen waren von Kopf bis Fuß in atmungsaktive Jack-Wolfskin-Klamotten gehüllt und trugen hässliche wasserfeste Sandalen; die männliche Fraktion in Braun, die weibliche in Dunkellila. Natürlich war ihr Pferd schlanker als unseres und ließ sich von den Kindern mit unreifen Äpfeln füttern.
Am liebsten hätte ich mich in unseren Zigeunerwagen verkrochen, doch der war so winzig und zugestellt, dass wir kaum zu dritt hineinpassten – es sei denn, wir zwängten uns in die schmalen Schlafkojen. Jeweils zwei übereinander, rechts und links des Gangs.
Erst als ich im Wagen stand und mich umsah, wurde mir klar, was dieser Urlaub bedeutete: Ich musste zusammen mit meinen Eltern in einem Raum pennen, der weniger Quadratmeter maß als unser Badezimmer. Mama hatte rasch entschieden, dass sie unter mir schlafen würde und Papa neben ihr und wir die verbliebene obere Pritsche als Lagerstelle für unsere Koffer und Taschen und Kleidung nutzen würden. Mir war schleierhaft, wo Leander nächtigen sollte. Seine Duschorgien konnte er ebenfalls abhaken. Es gab keine Dusche, genauso wenig wie eine Toilette. Alles, was der Zigeunerwagen an sanitären Einrichtungen bot, war ein Chemieklo »für die Not« und eine eckige Spüle, in der man ein paar Kaffeetassen säubern konnte. Leander würde es noch bitter bereuen, diesen Urlaub ausgewählt zu haben. Vielleicht tat er es bereits.
»Jetzt reiß dich mal zusammen und komm mit nach draußen. Bald gibt es Abendessen und …«
»Oooohhh …«, stöhnte Leander und hielt sich seinen Bauch. »Nicht gut. Kein Abendessen. Ich rieche den Tod nicht nur. Ich schmecke ihn auch.«
Ein lautes Rumpeln ließ meinen Blick wieder zum Lagerplatz schnellen. Unser Zigeunerwagen schwankte bedrohlich. Wahrscheinlich räumte Mama unsere Sachen ein und bezog die Betten. Papa stand ratlos vor dem Kutschbock und versuchte, die Lederriemen der Pferdetrense zu sortieren, während die Hänflingskinder mit rotfleckigen Gesichtern eine neue Ladung grüner Miniäpfel heranschleppten. Ihr rostbraunes Ross schnaubte begeistert. Von Chantal sah ich nach wie vor nur einen quadratischen karamellfarbenen Hintern.
»Mama wird gleich nach mir rufen. Also, willst du hier drinnenbleiben? Mir ist es egal, mach, was du willst, ich muss es nur wissen …«
»Wie ist das Pferd?«, fragte Leander schwach.
»Dick.«
»Und die andere Familie?«
»Dünn. Eine Ladung dürrer Idioten, die sich benehmen, als würden sie den Mount Everest besteigen.« Missmutig beobachtete ich, wie der Hänflingsmann mit fachmännischem Blick ein isolierendes Sitzpolster über den
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