Luzie & Leander - 04 - Verblüffend stürmisch
allerhand ekelhafte Sachen angeboten: gedünstete Zwiebeln, bergeweise Sauerkraut, undefinierbarer Eintopf mit Fleisch und Gemüse und eine dampfende Fischsuppe.
»Bouillabaisse!«, japste Mama entzückt. »Heribert, schau doch! Eine echte Bouillabaisse mit Muscheln und Meeresfrüchten!«
Mama grapschte nach einem Teller und wollte zum Büffet stürzen, doch die Hänflinge kamen ihr zuvor. Eilig füllten sie sich ihre Suppenschalen randvoll und liefen im Gänsemarsch an einen langen Tisch, bis nur noch eine einsame Muschel im Sud schwamm. Enttäuscht stierte Mama in den Topf.
»Es wäre schön, wenn du dich am Büffet etwas zurücknimmst, Rosa«, mahnte Papa.
»Ich? Zurücknehmen? Wer ist denn über die Suppe hergefallen, als gäbe es kein Morgen mehr?« Zornig ergriff Mama den Schöpflöffel und begann die verbliebene Muschel zu jagen, als plötzlich ein blauer Schatten durch die Luft schoss und den Topf zum Kippen brachte.
»Rosa! Obacht!«, rief Papa, doch es war schon zu spät. Die Suppe ergoss sich über Mamas satinverpackte Brust und der Topf zersprang auf dem Steinboden in unzählige Scherben. Ich musste an die Szene mit der Vase in der Pizzeria denken und fühlte mich auf einmal so elend, dass ich keinen Hunger mehr hatte. Als hätte mich ein Bann in Eis verwandelt, blieb ich neben dem Büffet stehen und sah unbeteiligt dabei zu, wie Papa versuchte, Mamas Bluse trocken zu wischen, Leander schwungvoll die Muschel ins Gebüsch kickte, ein schlecht gelaunter Franzose mit fleckiger Kochschürze die Scherben aufkehrte und die Hänflinge sich feixend ihre dünnen Bäuche vollschlugen. Glücklicherweise war die Suppe nur noch lauwarm gewesen. Mama hatte sich keine Verbrennungen zugezogen.
Trotzdem zeigte mir die Aktion einmal mehr, welch unterirdische Schutzengelqualitäten Leander besaß. Mama hätte sich verbrühen können. Was für einen Zweck hatte diese Aktion überhaupt gehabt? Hatte er versucht zu fliegen und die Balance verloren? Er wusste doch, dass ihm das in meiner Gegenwart nicht gelingen konnte. Er hatte einen Körper und jemand mit Körper konnte nun mal nicht fliegen. Wann begriff er das nur endlich?
Ich schnappte mir ein halbes Baguette und eine Birne und zog mich in unseren Zigeunerwagen zurück. Chantal stand auf der Weide und graste – etwas anderes als fressen und äppeln hatte sie nicht im Sinn. Ich unternahm einen halbherzigen Versuch, in Leanders Harry Potter- Bandzu lesen, doch die Sätze ergaben keine Logik, weil meine Gedanken unaufhörlich um die Schwarze Brigade kreisten. Leander musste also von nun an den pflichtbewussten Sky Patrol mimen, um keinen Verdacht zu wecken. Eine Garantie, dass das funktionierte, hatten wir nicht. Außerdem bedeutete es, dass ich weder mit ihm sprechen noch zeigen durfte, dass ich ihn sah. Zu keiner Tages- und Nachtzeit – also auch dann nicht, wenn meine Eltern schliefen. Dummerweise hatte ich mich bereits daran gewöhnt, mit Leander zu reden, sobald niemand mehr in der Nähe war. Doch die Schwarze Brigade sah und hörte wahrscheinlich alles. Es handelte sich schließlich um eine Elitetruppe.
Nachdem ich mir lustlos das Baguette und die Birne einverleibt hatte, schlich ich hinter einen Busch, um zu pinkeln. Als ich zurückkam, saß Leander mit niedergeschlagenen Augen und in erstklassiger Wächterhaltung auf dem Kutschbock. Ich unterdrückte den Impuls, ihn anzusprechen und mich neben ihn zu setzen, denn damit würde ich ihn vermutlich sofort in Gefahr bringen.
Guck mich wenigstens mal an!, brüllte es in mir, doch ich kroch wortlos an ihm vorbei in den Wagen und erklomm meine Pritsche. Nun lag ich wieder auf der oberen Etage eines Hochbetts, wie schon im Mai auf der Klassenfahrt, aber in dieser Nacht würde Leander sich nicht zu mir legen und mir seinen Pfefferminzatem ins Gesicht pusten. Auch in den folgenden Nächten nicht. Ich hatte nur noch das doofe Pferd und meine Eltern zur Gesellschaft.
Auf der Klassenfahrt hatte ich mich zwischendurch weit weg gewünscht, am besten nach Hause. Jetzt hätte ich alles darum gegeben, noch einmal in die Burg zurückzukehren und mir Elenas Beleidigungen anzuhören, denn das war um Längen besser, als mit Mama, Papa und den Hänflingen durch die Pampa zu ziehen.
Vom Bauernhof schallte fröhliches Lachen herüber. Dann stimmte jemand ein Lied auf dem Akkordeon an. Wenn ich Leander nur erlaubt hätte, die Gitarre mitzunehmen, dachte ich mit einem merkwürdig schmerzenden Gefühl im Hals. Dann könnte er jetzt
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