Luzie & Leander - 04 - Verblüffend stürmisch
durschgebrannt? Eh?«
»Niemals!«, empörte sich Mama. »Nicht meine Luzie! Oder vielleicht doch …?«, unterbrach sie sich selbst und blickte zweifelnd auf die Boots, deren ausgefranste Schnürsenkel sich gegen das Plastik der Tüte drückten. »Oh Gott … nein …« Mama schlug die Hände vors Gesicht. »Vielleicht sind das die Schuhe eines Landstreichers, der sich nachts in unseren Wagen geschlichen und meine Luzie mitgenommen hat, und vorher hat er sie … Aber wir lagen doch direkt daneben! Wir hätten es gemerkt! Haben wir das etwa nicht gemerkt? Warum mussten wir auch so viel Rotwein trinken?«
»Pscht, Mama, sag so was nicht!«, fuhr ich warnend dazwischen, doch mich bemerkte ja niemand und es war sowieso schon zu spät.
»Sie ’aben vin getrünken?«, hakte der Polizist eifrig nach und schnalzte tadelnd mit der Zunge.
Mama jaulte dramatisch auf. »Nur ein bisschen!«
»Sie sagten eben: so viel Rotwein, eh? Isch ’abe es genau ge’ört, Madame Morgenroth! Fangen Sie nischt an zu flünkern! Aber machen Sie sisch nischt zu große Sorgen. Ihre kleine Tochter ist bestimmt mit ihrer große amour durschgebrannt … und wir werden sie finden. Wir finden sie!«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte ich traurig und sah dabei zu, wie der Bulle die Schuhe in den Kofferraum seines Wagens warf, Mama die Hand tätschelte, seine Zigarette mit dem Absatz ausdrückte und davonfuhr. Mama hievte ihren schweren Hintern auf den Kutschbock und stierte dumpf auf den Waldrand.
»Eins, zwei, drei«, zählte ich, und bevor ich bei drei war, fing sie laut zu weinen und zu klagen an. Das konnte Mama wie keine andere. Weinen und klagen, ganz egal, ob jemand zuhörte oder nicht. Sie tat das meistens dann, wenn sie sonntags ihre Schnulzenfilme anschaute, obwohl niemand (Sichtbares) im Zimmer war, und Leander machte sich einen Spaß daraus, zu antworten und in ihr Lamentieren einzustimmen.
Spaßig war diese Situation hier wahrlich nicht, doch ich verstand langsam, warum Leander solche Dinge tat. Wie konnte ich ihr gegenüberstehen und nicht mit ihr sprechen? Das ging überhaupt nicht.
»Oh Luzie, meine süße, kleine Luzie, was hast du nur getan … Was ist mit dir passiert!?«, klagte Mama und schnäuzte sich in Trompetenlautstärke die Nase.
»Nichts Schlimmes, Mama. Ich hab nur nachts bei einem, äh, Jungen im Arm geschlafen und dieser Junge ist … durchsichtig. Du kannst ihn nicht sehen, aber ich, und weil er mich zu lange …« Nein, sorry, das konnte ich nicht erzählen, auch wenn sie mich nicht hörte. Das ging sie verdammt noch mal nichts an.
»Und wieso sind da ein paar Schuhe im Wagen, die ich nicht kenne? Männerschuhe? Warum!? Was hast du mir noch alles verheimlicht, Luzie? Und du könntest auch langsam zurückkommen, Heribert!«, posaunte sie vorwurfsvoll. »Oh, ich halte das nicht aus! Ich halte es nicht aus, sie ist doch mein einziges Kind, mein kleines Baby!«
Ich hielt es auch nicht mehr aus. Nicht anfassen, auf keinen Fall anfassen, hatte Leander gesagt, und ja, ich hatte verstanden, warum das gefährlich war. Ich wollte die Lage nicht noch aussichtsloser machen. Aber ich konnte Mama auch nicht länger tatenlos zusehen. Ich krabbelte zu ihr auf den Kutschbock und setzte mich neben sie. Sie hatte sich sämtliche Schminke aus dem Gesicht geweint. Ihre Lippen waren blass, ihre Wangen voller zerlaufener Wimperntusche und ihre Haare standen zerzaust zu Berge.
»Luzie … Luzie, meine kleine Maus …«, wimmerte sie und wiegte sich vor und zurück.
»Mama, ich bin da. Direkt neben dir. Mir geht’s gut. Na ja, gut ist was anderes, aber ich bin unverletzt und es hat mich auch kein Landstreicher vergewaltigt. Wenn Leander recht hat, bin ich bald wieder sichtbar, und dann …«
Jetzt konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Wenn Leander recht hatte … Aber genau daran zweifelte ich inzwischen. Leander hatte schon verflucht viel Mist erzählt in der Zeit, in der ich es mit ihm hatte aushalten müssen, und wenn es stimmte, was seine Eltern über ihn sagten, kannte er sich nicht besonders gut aus in der Welt von Sky Patrol. Wie hatten sie es formuliert? Das Wissen der Geheimloge würde er niemals erreichen – dazu sei er zu dumm, zu schwach, zu faul.
»Mann, ich bin so blöd!«, rief ich und klatschte mir gegen die Stirn. »Natürlich, das ist es! Er ist dumm, ich bin schlau!«
Die Dialoge seiner Eltern trudelten in Bruchstücken durch meinen Kopf, doch nun hatte eines dieser Bruchstücke einen Sinn
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