Luzie & Leander - 04 - Verblüffend stürmisch
was es mit dem Dreisprung auf sich hatte.
Aber der Dreisprung hatte auch seine Schattenseiten. Leander würde zwischen den Welten hängen bleiben, hatten die Cherubims gesagt. Er würde seine Fähigkeiten verlieren. Doch war das nicht schon längst der Fall? Seine Flugkünste hatten sich in den vergangenen Monaten drastisch verschlechtert. Er ging schon seit einiger Zeit nicht mehr regelmäßig auf Freiflug. Und er lebte weder als Mensch noch als Wächter, auch wenn er gerne anderes behauptete. Würde er den Dreisprung vollziehen wollen? Oder war sein Ehrgeiz, zu Sky Patrol zu gehören, stärker?
»Egal«, sagte ich zu mir selbst. »Darüber können wir später immer noch diskutieren.« Leander würde schon einsehen, dass es besser war, nicht mehr fliegen zu können, als ins Straflager nach Guadeloupe verschickt zu werden. Denn das war der zweite Punkt und viel wichtiger. Ich konnte diese Strafversetzung nicht zulassen. Ja, bevor seine Familie aufgetaucht war, hatte ich vor Zorn geschworen, ihn dieses Mal laufen zu lassen und endlich ein normales Leben anzufangen. Aber da hatte ich auch noch nicht gewusst, dass seine Eltern seinen Tod riskieren wollten, um wieder Ansehen und Ruhm zu genießen. Die Bilder, die ich gesehen hatte, würde ich nicht mehr vergessen. Sie würden mich immer daran erinnern, dass Leander womöglich auf die andere Seite gerissen worden war, und warum? Weil er Anschnallgurt gespielt und meine Mutter vor einer Lebensmittelvergiftung bewahrt hatte. Er hatte endlich einmal etwas Gutes getan und sollte nun dafür bestraft werden – nein, das durfte ich nicht zulassen.
Außerdem wusste ich nicht, ob ich jemals wieder sichtbar sein würde, und vielleicht war Leander das einzige Wesen weit und breit, für das ich als lebendiger Mensch zu erkennen war. Alleine bleiben wollte ich auf keinen Fall. Deshalb: lieber bis ans Ende meiner Tage von Leander genervt werden, als mit niemandem mehr reden zu können.
Und wenn ich ihn endlich gefunden hatte und wir das Problem mit dem Dreisprung gelöst hatten, würde ich meine Eltern anrufen und alles würde werden wie vorher. Ich lehnte mich an den Baumstamm in meinem Rücken und schloss erleichtert die Augen. Ja, alles würde wieder werden wie vorher.
Am Sonntag wollten Nathan und Clarissa zu Leander switchen und ihn nach Guadeloupe abkommandieren. Bis dahin musste ich ihn finden. Ich hatte noch drei Tage.
Das Dumme war nur, dass ich nicht die leiseste Ahnung hatte, wo er sich befand.
Für alle Fälle
Beim nächsten Schritt gaben meine Knie nach, als wären sie aus Pudding. Ich fiel vornüber auf den heißen Asphalt der Landstraße und konnte mich nur durch das Abstützen meiner Hände davor bewahren, auf den Kopf zu knallen und mir eine Gehirnerschütterung zuzuziehen. Gehirnerschütterungen hatte ich schon genügend erlitten in meinem Leben, eine neue brauchte ich nicht. Es war mir ohnehin fast unmöglich geworden, klare Gedanken zu fassen. Mein Gehirn hatte sich in der Sommerschwüle aufgelöst.
Einen Moment lang blieb ich liegen, obwohl der Boden so heiß war, dass er mich schmerzte. Doch was änderte das schon? Meine Füße waren übersät von Blasen, meine nackten Arme zerstochen und sonnenverbrannt, mein Kopf dröhnte im Takt meiner Schritte vor sich hin – ich war am Ende meiner Kräfte. Wahrscheinlich hatte ich außerdem einen Sonnenstich. Seit Stunden schon war mir übel. Trotzdem war ich noch nicht in der Stimmung, mich überfahren zu lassen. Auf allen vieren schleppte ich mich an den Wegesrand in den Schatten eines Baumes, wo ich liegen bleiben wollte, bis ich wieder genug Energie gesammelt hatte, um mich aufzurichten und umzusehen.
Ich brauchte Wasser. Meine Flasche war fast leer. Hunger hatte ich bei dieser Hitze keinen, aber mein Mund war so trocken, dass ich ihn nicht mehr schließen wollte und hechelnd wie ein Hund über die einsamen Straßen lief. Mit der Zunge fuhr ich mir über die aufgesprungenen Lippen. Sie fühlten sich an, als ob sie bluteten.
Ach, wenn ich nur in Geografie besser aufgepasst hätte … Dann hätte ich zumindest eine ungefähre Vorstellung davon gehabt, wo ich hier eigentlich umherirrte. Doch die Namen der Dörfer, die ich hinter mir gelassen hatte, hatte ich noch nie in meinem Leben gehört oder gelesen. Ich hatte versucht, sie auswendig zu lernen, falls ich unterwegs einen Busfahrplan oder eine große Karte entdeckte, wie sie überall in Ludwigshafen an den S-Bahn- und Bushaltestellen hingen, sodass ich mich
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