Luzie & Leander - 04 - Verblüffend stürmisch
orientieren konnte und erfuhr, wo sich die nächste größere Stadt befand.
Aber selbst das würde mir bei meinem Plan kaum weiterhelfen. Es würde mich höchstens zum nächsten Supermarkt bringen. Höchstens? Ich betrachtete zweifelnd den letzten Schluck Wasser in meiner Flasche, trüb und warm. Ohne einen Supermarkt würde ich verdursten. Er war im Moment wichtiger als alles andere. Tot konnte ich Leander auch nicht vor Guadeloupe bewahren.
Und dieses »alles andere« würde ich allein sowieso nicht hinkriegen. Wie vorhin beim Laufen schoben sich erneut schwarze, pulsierende Wolken in mein Blickfeld und mein Magen drehte sich um. Ich konnte das Wasser nicht länger aufbewahren. Ich musste es jetzt trinken. Sonst würde ich das Bewusstsein verlieren.
Mit fliegenden Fingern schraubte ich den Verschluss der Flasche auf und kippte die lauwarme Brühe meine Kehle hinunter. Die schwarzen Wolken verschwanden, doch binnen wenigen Sekunden war meine Zunge wieder trocken. Trotzdem schenkte das Wasser mir Kraft genug, um aufzustehen und mich umzusehen. War das da hinten nicht eine Brücke? Oder eine Art Wehr? Wo eine Brücke war, gab es meistens auch Wasser. Dort musste die Saône entlangfließen. Nicht nur ein Bach, sondern ein Flüsschen! Vielleicht konnte ich darin baden, mich erfrischen, vielleicht ein bisschen im Uferschatten dösen.
Ich biss die Zähne zusammen und begann erneut zu laufen. Nur langsam rückten die steinernen Brückenbogen näher und mit jedem Schritt, den ich mich vorwärtsquälte, wurde ich wütender auf mich selbst. Von all meinen Plänen, die ich bisher so geschmiedet hatte, war dieser der beschissenste. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, einfach so loszumarschieren, ohne zu wissen, wohin? Nun war es Freitagmittag, ich war halb verdurstet und verhungert und hatte immer noch keine Ahnung, wo Leander sich aufhielt. Ich hatte ja noch nicht einmal eine Ahnung, wo ich mich aufhielt. Und da ich völlig die Orientierung verloren hatte, hatte ich mir auch die Möglichkeit verbaut, umzukehren und zurück zu meinen Eltern zu laufen. Selbst das wäre wahrscheinlich in die Hose gegangen, weil sie den Lagerplatz sicher längst verlassen hatten. Ja, ich hatte die ganze Zeit diese blöde Hoffnung gehegt, dass nach einer Wegbiegung plötzlich Chantal vor mir auftauchen würde, Chantal mit Leander auf dem Rücken, und sie keinen Schritt vorwärtskamen, weil das Pferd wieder einmal stehen geblieben war und Denkmal spielte. Doch es tauchte keine Chantal auf und damit auch kein Leander. Nur ein paar schwarz-weiße Kühe auf einer Weide, die mit halb geschlossenen Augen ihr Gras wiederkäuten.
Endlich hatte ich das Wehr erreicht, schlitterte die Böschung zum Fluss hinunter und zog meine Schuhe aus. Ich keuchte laut auf, als das Wasser die blutenden Blasen sauberspülte und meine verkrampften Waden kühlte. Rückwärts sank ich auf den Uferkies, die Füße im Wasser, die Augen vor der grellen Sonne geschlossen. Oh, das tat gut. Ob man das Wasser denn auch trinken konnte? Würde Leander es mich trinken lassen? Ich richtete mich wieder auf und beäugte misstrauisch die seichte bräunliche Strömung. Nein. Leander würde das auf keinen Fall zulassen. Selbst hier, am Ufer, konnte ich nicht bis auf den sandigen Grund blicken. Ich musste wohl oder übel zum nächsten Dorf weiterlaufen. Vielleicht fand ich dort einen Brunnen oder konnte mich in einen Hof schleichen und dort aus einem Hahn trinken. Möglicherweise sah man mich immer noch nicht.
Doch ich hatte keine Kraft mehr weiterzulaufen. Es war Mittag, die Sonne stand im Zenit und vermutlich würden die Temperaturen noch ansteigen. Ich musste eine Pause einlegen und ich musste meinen Plan umschreiben.
Nun tat ich doch, wovor ich mich seit meinem Aufbruch fürchtete. Ich zog mein Handy aus der Hosentasche und schaltete es ein. Sobald es Empfang bekam, piepste es penetrant. Siebenundsechzig Anrufe in Abwesenheit ohne Mailboxnachricht. Ging ja auch nicht. Ich hatte keine Mailbox.
Meine Augen begannen zu flackern. Siebenundsechzig Mal hatte Mama versucht, mich anzurufen. Und immer hatte sie sich anhören müssen, dass der gewünschte Teilnehmer momentan nicht erreichbar sei. Mein Akku war fast leer und mein Guthaben reichte noch für maximal einen Anruf. Ich hatte einen einzigen kurzen Anruf zur Verfügung, mehr nicht – doch wem sollte er gelten?
Natürlich war es am naheliegendsten, Mama und Papa anzurufen. Doch was, wenn sie abnahmen und mich immer noch nicht
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