Luzie & Leander - 04 - Verblüffend stürmisch
ergeben. Ich musste sie nur einfangen und richtig zusammensetzen. Und das konnte ich nicht, wenn meine heulende Mutter neben mir saß und mich ebenfalls zum Heulen brachte. Sie tat mir so unendlich leid. Doch ich musste sie jetzt allein lassen. Es ging nicht anders.
»Papa ist bestimmt bald zurück, Mama. Er wird mich zwar nicht gefunden haben, aber …« Meine Stimme brach. Papa. Oh, mein lieber, guter, alter, bescheuerter Papa … Ich hätte ihn so gerne noch einmal gesehen. Aber ich durfte keine Zeit verlieren. Ja, wenn ich das, was sich vage als Plan in meinem Kopf formte, umsetzen wollte, musste ich sofort aufbrechen.
Tapfer hustete ich meine Tränen weg. »Ich muss jetzt gehen, Mama. Heul nicht so viel, das steht dir nicht. Okay?«
Mama putzte sich erneut ihre geschwollene Nase, warf das nasse Taschentuch hinter sich und schaute mit tränenverhangenem Blick in den Abendhimmel.
»Ach, Luzie … Wo bist du nur? Ich kann doch ohne mein Kind nicht leben.«
»Also, Mama, jetzt halt mal die Luft an. Erstens bin ich kein Kind mehr, schon lange nicht mehr, und zweitens kannst du sehr wohl ohne mich leben. Irgendwann ziehe ich aus und hab meine eigene Familie und dann musst du auch ohne mich klarkommen.«
»Ob ich zu sehr geklammert habe?«, fragte sich Mama mit bebendem Tremolo. »Bestimmt habe ich zu sehr geklammert.«
»Ja, das kann sein.« Ich musste lächeln. »Aber das ist nicht der Grund, warum ich weg bin. Ich bin nur weg, weil ich einen Freund habe, von dem ihr nichts wisst und der alles durcheinanderwirft und …« Ich atmete langsam aus. »Oh Mama. Ich glaub, du hast mich schon die ganze Zeit nicht gesehen. Du weißt gar nichts mehr von mir.«
Ich hätte gerne ein Kleenex aus der Box gezogen, die auf Mamas Knien thronte und aus der sie sich im Minutentakt bediente, denn nun lief auch meine Nase, aber ein in der Luft tanzendes Taschentuch hätte Mama den Rest gegeben. Es war ganz schön anstrengend, unsichtbar zu sein, wenn man sich in der Nähe von Menschen befand. Es überraschte mich nicht mehr, dass Leander anfangs ständig Mist gebaut hatte.
Ich hob in Zeitlupe meine Hand und berührte ganz sacht eine von Mamas abstehenden Locken. Dann bewegte ich meine Finger hinunter bis zu ihrer Wange und ließ sie in der Luft ruhen, nur wenige Millimeter von ihrer nassen, mascaraverschmierten Haut entfernt. Spürte sie meine Wärme?
»Ich weiß, dass du irgendwo da draußen bist, mein Kind. Ich weiß es«, flüsterte sie. »Du lebst. Doch, Luzie, du lebst.«
»Klar lebe ich«, antwortete ich erstickt, sprang vom Kutschbock und rannte ohne eine Pause und ohne einen Blick zurück in die Nacht hinein, bis es stockdunkel geworden war und ich kaum mehr die Straße erkennen konnte. Keuchend stemmte ich die Hände auf meine Oberschenkel und versuchte, zu Atem zu kommen. Doch das Laufen hatte die letzten dunklen Wolken aus meinem Kopf vertrieben. Nun konnte ich nachdenken. Ich nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, die ich mir in den Bund meiner Cargohose geklemmt hatte, und setzte mich am Wegesrand unter einen Baum.
Es dauerte eine Weile, bis ich meine Gedanken geordnet hatte und mir klar geworden war, was ich tun musste. An meinem Plan gab es keinen Zweifel. Mein Herz und mein Hirn sagten das Gleiche. Eigentlich war es sogar einfach – und trotzdem so schwierig, dass ich nicht wusste, wie ich es jemals schaffen sollte.
Es gab also eine Möglichkeit für Leander, sich vor Sky Patrol und damit auch vor der Schwarzen Brigade zu verbergen – so, dass sie ihn nicht finden und damit auch nicht strafversetzen konnten. Den Dreisprung. Er hatte etwas mit der Frequenz zu tun, die die Wächter ausstrahlten. Diese Frequenz war eine Art Erkennungscode. Meistens ein Akkord. Leander hatte seinen Akkord verändert, um die Schwarze Brigade nicht auf seine Spur zu locken, und damit Schande über seine Truppe gebracht. Wahrscheinlich galt es als Frevel, die Frequenz zu verändern.
Durch diese Frequenzänderung war er schon nicht mehr leicht zu orten für Nathan und Clarissa. Wenn er aber den Dreisprung vollführte, würde er für keinen Wächter mehr zu orten sein, auch für die Brigade nicht. Wie genau dieser Dreisprung funktionierte, wusste ich natürlich nicht, und ich befürchtete, dass Leander es ebenso wenig wusste. Doch entscheidend war für mich, dass es eine Möglichkeit gab, sich vor der Brigade und seiner Familie zu verstecken, ohne dass Leander von mir fortgehen musste. Irgendwie würden wir schon herausfinden,
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