Luzie & Leander - 04 - Verblüffend stürmisch
bestatten«, pflichtete Suni mir ungeduldig bei. »Und wir gehen auch zum Arzt. Wir dürfen nur nicht mit solchen Menschen befreundet sein oder bei ihnen wohnen oder sie in unsere Familie aufnehmen.«
»Warum denn das?« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Irgendwie fühlte ich mich beleidigt. Ob Papa wusste, dass sein Beruf bei den Sinti als unrein galt? Papa war einer der reinlichsten Menschen, die ich kannte. Wenn seine Krawatte oder sein Hemd nur den winzigsten Fleck hatten, tauschte er sie sofort aus. Und ich hatte es noch nie erlebt, dass er einen schwarzen Rand unter seinen Fingernägeln trug. Bei Billy, Seppo und Serdan waren schwarze Halbmonde Alltag, bei ihnen kannte ich das gar nicht anders. Aber die galten nicht als unrein, nur weil ihre Eltern andere Berufe hatten? Das war ungerecht.
»Wir wissen es selbst nicht genau«, gab Suni widerstrebend zu. »Es ist eben so und wir halten uns daran. In der einen Schule, auf die ich im Elsass gegangen bin, wollte ein Lehrer wissen, warum das so ist«, sprach sie weiter, als sie meinen vorwurfsvollen Blick bemerkte. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Es war mein Geschichtslehrer. Er hat sich dann seine eigenen Gedanken gemacht und vermutet, dass diese Vorschrift uns früher vor Krankheiten schützen sollte, denn wenn bei uns in einer umherziehenden Familie die Pest oder die Cholera ausgebrochen wäre, hätte sie uns komplett ausgelöscht. Wir leben sehr eng zusammen und teilen uns alles, verstehst du? Wenn wir sterben, ist nichts mehr von uns da, gar nichts. Wir haben keine feste Heimat, ziehen nur umher. Wir selbst sind unsere Heimat. Wir Menschen. Das bedeutet Manouches übrigens – Menschen.«
»Es gibt keine Pest mehr«, entgegnete ich steif, obwohl ich sie langsam zu verstehen begann.
»Na und?« Suni strengte meine Fragerei sichtlich an. Sie wusste, dass wir beobachtet wurden und Shima wartete. Aber das war mir gerade ziemlich egal. »Ihr steckt euch doch auch Oblaten in den Mund und sagt, es ist der Leib Christi«, argumentierte Suni. »Das ist genauso …«
»Ich tue das nicht«, warf ich dazwischen. »Ich bin nicht getauft.«
»Oh mon dieu, auch das noch.« Suni verdrehte die Augen. »Luzie, ich sehe das alles nicht so streng und mein Vater zum Glück auch nicht, aber Shima schon. Wenn du willst, dass sie euch erlaubt mitzufahren, dann erzähl nichts davon. Du musst aber trotzdem die Wahrheit sagen, wenn sie dich etwas fragt. Denn Shima hat die Fähigkeit, in die Herzen der Menschen und in die Zukunft zu sehen. Nun lass uns endlich zu ihr gehen, wir müssen bald weiterziehen.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, packte Suni wie vorhin schon mein Handgelenk und dirigierte mich zu einem schäbigen, bauchigen Wohnwagen mit zugezogenen Blumenmustergardinen hinter seinen zwei winzigen Fensterchen.
Wie war das?, rekapitulierte ich, während sich mein Herzschlag beschleunigte. Ich sollte den Beruf meines Vaters verschweigen und gleichzeitig die Wahrheit sagen? Zu lügen wäre eine Kleinigkeit gewesen, aber …
Nein, wäre es nicht, korrigierte ich mich entmutigt, als ich Shima erblickte und sie mich mit einem wütenden, nicht enden wollenden Wortschwall überfiel, von dem ich nicht eine Silbe verstand. Suni gab sich keine Mühe zu übersetzen. Sie blieb wie ich mit gesenktem Kopf stehen und wartete, bis das Donnerwetter vorübergezogen war. Doch Shima hatte Ausdauer und so hob ich nach einigen Minuten doch meine Lider, um sie zu betrachten, denn mein erster flüchtiger Blick hatte meine Neugierde geschürt.
Im Großen und Ganzen sah Shima nicht so aus, wie ich mir eine alte, weissagende Zigeunerin vorstellte. Kein Kopftuch, keine langen Gewänder, keine klimpernden Goldketten. Sie trug eine ausgebeulte, verwaschene Jeans, ein schief zugeknöpftes Karohemd und ausgelatschte Hausschuhe. Haare hatte sie fast keine mehr. Es befanden sich auch keine Glaskugeln und Tarotkarten auf dem Tisch, sondern eine Kaffeetasse mit bunten Bärchen unter dem Goldrand und ein überquellender Aschenbecher. Während Shima schimpfte, rauchte sie ohne Unterlass. Beim Zetern zerteilte sich der bläuliche Qualm in unzählige kleine Wolkenfetzen, die an die niedrige Decke stiegen und sich dann wie giftiger Nebel zwischen all den kitschigen Puppen, die scharenweise in den Regalen thronten, niederließen. Es sah beinahe so aus, als würden die Puppen selbst rauchen.
Doch weder die Puppen noch der Rauch konnten mich von Shimas Gesicht ablenken. Es war der
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