Luzie & Leander - 04 - Verblüffend stürmisch
eindrucksvollste Hagelschaden, den ich jemals gesehen hatte. Hagelschaden – so nannten Seppo, Serdan und Billy alte Leute mit vielen Falten und Runzeln. Okay, ich tat es auch. Mir war schon klar, dass das nicht gerade nett war, aber wenn sich jemand im Friedenspark über unser Parkour-Training beschwert hatte, dann waren es ausnahmslos alte Menschen gewesen. Die jüngeren Passanten guckten nur blöd, aber die Alten fühlten sich sofort von uns angegriffen und belästigt. Ich glaube, Billy war es gewesen, der zum ersten Mal »Achtung, Hagelschaden« gemurmelt hatte, als wieder eine Oma mit gerecktem Spazierstock auf uns zugetrippelt war. Seitdem hatte sich dieser Begriff bei uns eingebürgert.
Vor zeternden Omas mit Spazierstöckchen hatte ich keine Angst. Die nervten höchstens. Vor einer zeternden Shima hingegen konnte man sehr wohl Angst bekommen. Denn sie besaß nicht diese trüben, fernen Augen, wie ich sie schon oft bei anderen alten Menschen gesehen habe. Ihre Augen sprühten und blitzten wie ein Feuerwerk und versenkten sich immer wieder so fest in meine, dass ich versucht war, ihnen auszuweichen. Doch ich tat es nicht, weil sie gleichzeitig so schön waren, dass ich staunend bei ihnen blieb. Sie erinnerten mich an die Augen der Krähen, die im Herbst und Winter über die frisch gemachten Gräber auf dem Friedhof huschten und dabei laut schimpften. Genau wie Shima.
Doch nun verstummte sie, weil sie husten musste, und Suni nutzte die Gelegenheit, um das Donnerwetter kurz und bündig zusammenzufassen.
»Du und dein Freund habt uns in Schwierigkeiten gebracht. Wenn wir euch jetzt rauswerfen, sind wir die Bösen, weil man das nicht tut – Kinder auf einer Autobahnraststätte aussetzen. Wenn wir euch mitnehmen und ihr werdet bei uns gefunden, sind wir ebenfalls die Bösen. Und wir stehen wahrscheinlich sowieso schon im Verdacht, euch geklaut zu haben, weil eure Kleider und Handys in der Nähe unseres Lagerplatzes entdeckt wurden.«
»Oh«, machte ich und versuchte, Shima entschuldigend anzulächeln, doch ihr Krähenblick brachte mein Lächeln sofort zum Gefrieren. »Sorry«, setzte ich dennoch hinterher. Verstand sie »sorry«? »Pardon.« War das besser?
Mit einer harschen Handbewegung forderte sie mich auf, mich zu ihr an den kleinen Tisch zu setzen. Ich gehorchte dankbar, denn ich hatte während ihrer Standpauke weiche Knie bekommen. Shima nahm meine Hände in ihre und strich mit ihren nikotinverfärbten, gebogenen Krallenfingern über meine Knöchel. Seltsamerweise war das gar nicht unangenehm. Ihre Berührungen waren sanft und ihre Haut angenehm warm und trocken.
»Sie möchte wissen, warum du in den Süden willst. Was das für ein Freund ist, dem du dort helfen möchtest«, sagte Suni, ohne dass Shima den Mund aufgemacht hatte. Wahrscheinlich hatte Suni ihr schon vorher von unserer misslichen Lage berichtet.
Was jetzt?, dachte ich verzweifelt. Shima würde jede Lüge sofort enttarnen. Es war sinnlos, eine Geschichte zu erfinden. Und irgendwie wollte ich auch endlich mal die Wahrheit aussprechen. Ja, ich wollte es so sehr. Ich musste es.
»Es ist kein normaler Freund«, formulierte ich vorsichtig – und diesen Satz konnte man tatsächlich so stehen lassen, stellte ich nüchtern fest, denn er war keine Lüge, ganz und gar nicht. »Er ist eher ein … eine Art …« Ich suchte nach Worten. »Ein garde du corps«, schloss ich seufzend. Ich hatte instinktiv die französische Variante für »Körperwächter« gewählt, die Leander mir vor einiger Zeit verraten hatte. In meinen Ohren klang sie passend.
Shima horchte auf, beugte sich vor und strich erneut über meine Finger. Ihr Gesicht war meinem nun so nah, dass ich die kurzen weißen Haare sehen konnte, die aus ihrem runzligen Kinn sprossen. Suni übersetzte, was ich gesagt hatte, doch Shima bedeutete ihr mit einer harschen Kopfbewegung, dass es nicht nötig war. Sie hatte mich verstanden.
»Garde du corps?«, hakte sie nach.
Ich nickte, musste aber erst kräftig schlucken, um weiterreden zu können. »Er ist schon immer bei mir, um mich zu beschützen – ja, seitdem ich geboren wurde, doch vergangenen Herbst hatte ich einen schweren Unfall. Ich bin von einem Baugerüst gestürzt und hätte mir beinahe das Rückgrat gebrochen.«
Das musste Suni übersetzen und ihrem Tonfall merkte ich an, dass sie wissbegierig und fasziniert zugleich war.
»Wenn dieser Wächter nicht da gewesen wäre, wäre ich wahrscheinlich gestorben«, offenbarte ich, was ich
Weitere Kostenlose Bücher