Luzie & Leander - 04 - Verblüffend stürmisch
wie Shima konnte man sowieso nicht vergessen. Das war unmöglich.
»Achte auf das Zeichen, wenn der Morgen anbricht«, hatte sie gesagt, mich lange angesehen und dann beinahe andächtig auf die Stirn geküsst. Sie hatte nicht nur nach Rauch, sondern auch nach Wein gerochen, und deshalb hegte ich einige Zweifel, ob ich ihren Worten Glauben schenken sollte oder sie nur der Scherz einer angetrunkenen Zigeuneromi gewesen waren. Denn nach dem Kuss auf meine Stirn hatte sie sich kichernd und schwankend auf den Weg zurück zu den Musikern gemacht, die sie mit ehrfürchtigem Raunen begrüßten und in ihrer Mitte einen Platz für sie frei machten.
Doch irgendwann war auch das Lachen und Palavern der letzten Nachtschwärmer verklungen und ich musste mich höllisch konzentrieren, um nicht von dem Rauschen des Meeres in den Schlaf gewiegt zu werden. Ich wollte das Zeichen nicht verpassen.
Gerade war draußen ein heller, kurzer Pfiff ertönt. Reichte ein einziger Pfiff, um ein Zeichen zu sein? Musste es nicht ein spezieller Pfiff sein? Der hier konnte schließlich auch von einem Manouche stammen, der wie jeden Morgen vor die Tür gegangen war, um seinen Hund herbeizuordern. Doch nun erklang der Pfiff ein zweites Mal, in der gleichen Tonhöhe wie der erste und ebenso kurz.
Ich richtete mich auf und linste nach oben. Suni hatte sich auf die Koje unter dem Dach verzogen und ihr Vater war zum Schlafen in den Wohnwagen seines Bruders umgesiedelt. Denn man konnte davon ausgehen, dass ich nachts meinen Rock auszog und deswegen keinen fremden Mann in der Nähe haben durfte. Ich hatte den Rock jedoch angelassen, damit ich fluchtbereit war.
Suni schien fest zu schlafen. Ich hörte ihre gleichmäßigen, langsamen Atemzüge. Sie hatte lange getanzt und gesungen – ich wollte sie nicht wecken. Doch es fiel mir plötzlich schwer zu atmen, als ich begriff, dass ich sie ohne einen Satz oder eine Geste zurücklassen musste und sie weiterziehen würde. Es gab keine Adresse, keine gemeinsamen Fotos, nichts, was uns in Zukunft verbinden konnte. Sie hatte Serdan und mich nicht gesehen und wir hatten sie nicht gesehen. Das hatten wir Shima versprochen. Es war zu gefährlich, in Kontakt zu bleiben, und ich wollte weder Suni noch ihrer Familie Ärger verursachen. Das hatte ich bei meiner eigenen schon ausführlich getan. Mit der Wiedergutmachung würde ich die nächsten Monate beschäftigt sein.
Also schlich ich lautlos zur Tür, öffnete sie behutsam und sprang mit einem federnden Satz auf den kurzen, sandigen Rasen, der sich immer noch warm unter meine Füße schmiegte. Der Wind ließ meinen Rock zärtlich um meine Beine streichen, als ich einige Sekunden verharrte und darauf wartete, dass ich etwas sehen konnte. Doch im Osten verfärbte sich der Himmel bereits hellgrau und so war es mir ein Leichtes, die Gestalt zu erkennen, die mitten auf dem schmalen Pfad zwischen den Wohnwagen stand und auf mich zu warten schien.
Zögerlich, ja, beinahe misstrauisch trat ich auf sie zu. Denn es war nicht Serdan. Es war Mandolino, Sunis Cousin. Serdan lauerte ein paar Meter weiter im Hintergrund und rührte sich nicht vom Fleck. Hatten die beiden etwa Ärger bekommen?
»Ihr wollt nach Le Plan-de-la-Tour?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage und vor allem machte Mandolino sie auf Französisch. Anders als Suni konnte er kein Deutsch. Mein Hirn befand sich noch im Schlafmodus, aber ich nickte und nahm mir fest vor, ganz genau hinzuhören, wenn er weiterredete.
Doch bevor Mandolino das tat, zeigte er auf die Schnellstraße oberhalb des Lagerplatzes.
»Siehst du den weißen Lieferwagen? Er fährt an die Côte d’Azur und macht auch Halt in Le Plan-de-la-Tour. Ich kenne den Fahrer, er beliefert dort die Reichen mit Käse und Wein.«
»Auch sonntags?«, fragte ich zweifelnd und ärgerte mich über mein schlechtes Französisch. Es klang grauenvoll.
Mandolino verzog seinen weichen Mund zu einem spöttischen Grinsen. »Auch sonntags. Die Reichen wollen immer Wein und Käse haben und sie wollen sie frisch. Sie haben außerdem Butler, die Claude empfangen. Er wird euch nicht mitnehmen, er nimmt niemals jemanden mit, aber vielleicht könnt ihr bei ihm – unterkommen.« Sein Grinsen verstärkte sich.
Ich war mir nicht sicher, ob ich Mandolino richtig verstanden hatte, doch mir blieb keine Zeit mehr nachzufragen. Denn nun sahen wir, wie zwei Männer die Klappe des Wagens öffneten und mehrere Kisten mit dicken, runden Käselaiben hineinschoben.
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