Luzie & Leander - 04 - Verblüffend stürmisch
nicht gleichzeitig an Leander zu denken, denn vergangenen Heiligabend war er derjenige gewesen, der vor Rührung geschnieft hatte – und danach hatte er mich zu sich gezogen und mein Ohr gewärmt. Mein Kopf an seiner Schulter.
Der Weihnachtseffekt war im Grunde etwas Schönes, Heimeliges und das Wasser in meinen Augen spätestens dann kein Thema mehr, wenn wir nach dem Gottesdienst zurück nach Hause spaziert waren und uns mit Mamas schrecklichen selbst gebackenen Plätzchen vollstopften (oder wahlweise mit dem gekauften Erdnussgebäck). Doch hier, bei den Manouches und den spanischen Gitans, wurde gar nichts besser. Je länger ich der Musik zuhörte, desto schlimmer rüttelte sie an meinem Herzen.
Ich versuchte, mich abzulenken, indem ich Sunis Cousin Mandolino beim Gitarrespielen zuschaute, doch das war genau das Falsche, denn nun sah ich Leander vor mir und wusste, wie wohl er sich hier gefühlt und wie sehr er die Musik geliebt hätte. Er wäre herausgestochen wie ein bunter Hund mit seinen zerrissenen Jeans, seinem Tuch um die wuscheligen Haare und seinen blau-grünen Huskyaugen, doch es hätte ihn ja keiner außer mir gesehen.
Beinahe neidvoll blickte ich auf Suni, die mit einigen anderen festlich gekleideten Frauen zu den Musikern auf die Bühne trat und zu tanzen begann – verspielt, anmutig und geschmeidig. Ihre Haare wippten im Rhythmus ihrer Hüfte, als sie ihre Arme weit über den Kopf streckte. Ihr Mund blieb ernst, aber ihre Augen strahlten. Ich spürte, wie Serdan neben mir erstarrte. Wahrscheinlich klappte ihm gerade die Kinnlade hinunter.
»Pass auf, dass dir deine Augen nicht aus dem Kopf fallen«, raunte ich ihm zu.
Er zuckte ertappt zusammen. »Pfff«, machte er abfällig, ohne seine Aufmerksamkeit von der Bühne abzuwenden. Und genau dieses Pfff gab mir den Rest. Ein Pffff, das war Leanders Revier, nicht Serdans. Ich hatte mich immer über Leanders verächtliche Pfffs aufgeregt, aber nun vermisste ich sie so sehr, dass ich Serdan für sein Pfff gerne links und rechts geohrfeigt hätte. Nur ein einziges Pfff von Leander und ich hätte all das hier genießen können, mich daran erfreuen wie die anderen – an der eigenartig melancholischen und doch so schnellen Musik, an den Wellen, die sich im blauen Vollmondlicht am Strand brachen, an den vielen Schaulustigen, die gekommen waren und sich an den Manouches ergötzten, an dem Duft von gegrilltem Fleisch und frisch gebackenem Brot. Ohne Leanders Pfff aber würde ich nie wieder richtig glücklich werden. Ich musste dringend etwas gegen das Nie-wiederglücklich-Gefühl unternehmen, sonst würde ich verrückt werden oder Serdan in die Kniekehlen treten oder meinen Rock ausziehen und im Meer baden.
Nur dumm rumsitzen und Serdan beim Gaffen zusehen – das würde ich keinen Atemzug länger ertragen. Entschlossen sprang ich auf meine Füße. Die Zuschauer johlten und klatschten, als ich zu Suni und den anderen Frauen auf die Bühne trat, und die spanischen Gitans riefen mir etwas zu, das ich nicht verstand, aber es hörte sich freundlich und wohlwollend an. Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, dass auch Serdan sich erhoben hatte. Sollte er doch glotzen und sich über mich amüsieren. Oder sich für mich schämen? Wenn schon! Ich musste tanzen, sonst würde ich heulen und schreien, und zu keinem von beiden hatte ich Lust.
Das Tanzen half – zwar nicht sofort, denn meine ersten Schritte waren noch ungewohnt und steif und der raue Boden kratzte unter meinen nackten Sohlen, doch dann ergab sich alles wie von selbst. Ab und zu rutschten mir ein paar Breakdance-Moves dazwischen, aber das schien mir niemand übel zu nehmen, im Gegenteil: Manchmal ertönte sogar ein Extraapplaus. Nach dem Ende des Liedes, das viel zu schnell vorüber war, nahm Suni mich beiseite und schob mich sanft von der Bühne. Auch die anderen Frauen zogen sich an den Rand zurück.
Nun waren die Männer an der Reihe. Sie hatten sich herausgeputzt wie Serdan – mit dunklen, glänzenden Hemden und Hosen, die Haare kurz und gegelt, ihre Haltung stolz und unnahbar. Doch ihr Tanz war das Lustigste, was ich jemals gesehen hatte. Sie warfen ihre Füße so schnell und stampften zwischendurch so heftig auf, dass die gesamte Bühne erzitterte. In einer rasenden Choreografie schlugen sie sich dabei mit den Händen auf Fußsohlen, Oberschenkel und Arme, manchmal sogar komplett synchron. Es sah teilweise wirklich aus wie eine besonders kuriose Breakdance-Variante, wenn da nicht die hektischen
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