Luzifers Hammer
nach.
Nur, als sie sie in die Stadt gebracht hatten, saßen der Senator und der Bürgermeister noch am gleichen Nachmittag über sie zu Gericht, und am Abend wurden alle vier vor dem Rathaus gehängt. George Christophers Methode wäre barmherziger gewesen.
»Sie haben die Romans umgebracht und diesen anderen Burschen von Muchos Nombres «, sagte Harvey. »Was sollte sonst mit ihnen geschehen?«
»Teufel, sie haben einfach gerochen, was im Anzug war«, sagte Mark. »Und es ging alles so schnell. Wie diese Mädchen geweint und geschrien haben. Und als man ihnen die Schlinge …« Mark legte nach und brütete vor sich hin.
Die Hinrichtung hatte eine Menge Stadtbewohner schockiert, dachte Harvey. Doch keiner sagte ein Wort. Die Romans waren ihre Freunde. Außerdem konnte es gefährlich sein, sich einzumischen. Hinter Al Hardys Lächeln, hinter der fast unerschöpflichen Ruhe seiner Höflichkeit stand stets die letzte Drohung. Die Straße. Es war immer die Straße für die, die nicht mitmachten, für alle, die zu viele Schwierigkeiten machten: die Straße .
Sie waren schon fast oben angelangt, auf dem höchsten Punkt, den die Straße erreichte, als es am dritten Tag wieder Zeit wurde zu kampieren. Der Regen hatte nicht nachgelassen, und je höher sie kamen, um so kälter wurde er. Sie mußten für die Nacht ein Feuer haben, und das hieß, daß sie sehr auf ihr Feuer achten mußten. Harvey hatte seine Holzstücke vorsichtig aufgelegt und wollte gerade das Feuerzeugbenzin aus der Tasche holen, als ihm der Geruch in die Nase stieg.
»Rauch«, sagte Mark. »Ein Lagerfeuer.«
»Ja. Und gut versteckt«, sagte Harvey.
»Es ist ziemlich nahe. Wir hätten es sonst bei diesem Regen niemals gerochen.« Wahrscheinlich hätten sie es auch nicht erblickt. Harvey saß regungslos da und deutete Mark mit einem Wink an, still zu sein.
Ein scharfer Wind blies von oben, der den Geruch des Lagerfeuers mit sich brachte. Der Regen war wie ein feuchter Vorhang, und im ersterbenden Licht des Tages konnten sie nur wenige Meter weit sehen.
»Schauen wir mal nach«, flüsterte Mark.
»Gut. Lassen wir die Ponchos da. Wir können nicht mehr nasser werden, als wir schon sind.«
Sie stiegen vorsichtig bergauf zur Straße und spähten in die Düsternis.
»Da drüben«, flüsterte Mark. »Ich habe etwas gehört. Eine Stimme.«
Harvey meinte, es ebenfalls gehört zu haben, aber nur sehr leise. Sie bewegten sich in diese Richtung. Es gab keinerlei Anlaß, sich still zu verhalten. Der Wind und der Regen verschluckten die meisten Geräusche, und ihre Schritte riefen im feuchten Laub und im Schlamm des Waldbodens kaum ein Geräusch hervor.
»Halt!«
Sie erstarrten und verhielten sich mucksmäuschenstill. Es war die Stimme eines Mädchens, eines sehr jungen Mädchens, dachte Harvey. Die Stimme war sehr nahe, das Mädchen mußte irgendwo im nahen Dickicht verborgen liegen. »Andy«, rief er. »Besuch für euch!«
»Ich komme.«
Harvey erstarrte für einen Augenblick. Das war … »Andy!« rief er. »Andy, bist du’s?«
»Ja, Sir.« Sein Sohn kam den Pfad herunter.
Harvey lief auf ihn zu, um ihn zu begrüßen. »Andy, Gott sei Dank, daß es dir gut geht …«
»Jawohl, Sir. Ist Mutter …«
Harvey spürte, wie es ihn packte, wie sich die Erinnerung auf seine Seele legte, dieses fürchterliche Bündel in der Heizdecke.
»Räuber«, sagte Harvey. »Räuber haben deine Mutter umgebracht.«
»Oh.« Andy trat von seinem Vater zurück. Aus dem Dickicht kam ein Mädchen. Sie hatte ein Gewehr. Andy trat zu ihr, und sie standen nebeneinander. Beieinander. Der Bub war in diesen zwei Wochen gewachsen, dachte Harvey. Er sah, wie der junge da neben dem Mädchen stand, wie ein Beschützer, ganz natürlich, und er mußte unwillkürlich an die Worte bei der Trauungszeremonie denken: »Ein Fleisch.« Da standen sie, zwei Hälften und doch eins, aber so jung, so jung!
An Andys Kinn kräuselten sich ein paar schüttere Barthaare.
Kein richtiger Bart, nur die paar Haare, die Loretta wegrasiert haben wollte, weil sie nicht gut aussahen, obwohl man sie kaum erkennen konnte …
»Ist Mr. Vance da?« fragte Harvey.
»Natürlich. Hier entlang«, sagte Andy. Er wandte sich ab, und das Mädchen kehrte ins Dickicht zurück. Sie hatte kein Wort gesprochen. Harvey fragte sich, wer sie wohl war. Die Frau … seines Sohnes? Aber er kannte ihren Namen nicht, und der Junge hatte es ihm nicht gesagt. Und irgend etwas war so gar nicht in Ordnung, irgend etwas war
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