Lycana
schweifte ihr Blick durch den Saal - und blieb an seinen Augen hängen, die auf sie gerichtet waren. Er stand zwar am anderen Ende neben Alisa, doch sie konnte die Frage in seinen Augen lesen:
Wo bist du gewesen?
Rasch tauchte sie zwischen den anderen jungen Vampiren unter. Sie würde ihm eine Weile aus dem Weg gehen, sodass er seine Frage hoffentlich vergessen hatte, wenn sie wieder in seine Nähe gelangte.
Danilo schritt unruhig auf und ab. Wenn er den Bug erreichte, hob er den Blick und sah zum Ufer hinüber, das sich schwach von der dunklen See und dem bewölkten Nachthimmel abhob, dann wandte er sich um und schritt wieder zurück. Er sagte keinen Ton, doch er strahlte einen solchen Zorn aus, dass Tonka darauf verzichtete, ihn anzusprechen. Sie wusste, wie gefährlich ihr Bruder in dieser Stimmung war. Nicht dass sie Angst vor ihm gehabt hätte wie beispielsweise die vier Seeleute, die eng aneinandergepresst auf den Planken neben dem Steuerrad kauerten, ohne sich zu rühren oder auch nur einen Ton von sich zu geben. Ihre Furcht überraschte Tonka nicht, doch auch der bärengleiche Vampir, der sich ihr als Piero vorgestellt hatte, obwohl das vermutlich nicht sein richtiger Name war, zog den Kopf ein, als könne er sich dadurch unsichtbar machen. Vermutlich hätte er dies auch getan, wenn er solche Fähigkeiten besessen hätte.
Tonka betrachtete den Vampir von oben bis unten und kräuselte verächtlich die Lippen. Er war trotz seiner körperlichen Stärke ein Schwächling und sie verachtete Schwächlinge! Warum nur belasteten sie sich noch immer mit seiner Gesellschaft? Sie könnten viel schneller vorankommen, wenn sie nur auf sich gestellt wären. Waren sie ihm etwas schuldig? Weil er sie aufgesucht und ihnen das Geheimnis verraten hatte? Tonka war immer noch neugierig, woher er es gewusst hatte - und warum er sich mit ihnen zu verbünden suchte. Vielleicht würde sie versuchen, es herauszufinden, ehe sie sich seiner entledigte. Sie wartete nur auf den richtigen Zeitpunkt - wenn sie sicher war, dass er keine Geheimnisse mehr vor ihnen verbarg, die ihnen nützlich sein konnten.
Ein leichtes Schwirren in der Luft lenkte sie ab. Tonka fuhr herum. Sie spürte Erregung in sich aufwallen. Hatte sie richtig gehört, oder wartete sie so drängend auf dieses Geräusch, dass ihre Sinne ihr etwas vorzugaukeln begannen? Ihr scharfer Blick durchschnitt die Schwärze der Nacht. Ja! Da war etwas, das mit hastigen Flügelschlägen auf sie zusteuerte. Tonka streckte die Hand aus und die kleine Fledermaus landete in ihrer Handfläche. Behutsam schloss sie die Finger, dass das Tier nicht entkommen konnte, sie es aber auch nicht zerdrückte. Mit leichtem Schritt ging sie zu ihrem Bruder, der seine Wanderung über Deck noch immer unbeirrt fortsetzte.
»Danilo?«
Er hielt inne und wandte sich mit einer Bewegung um, als wolle er eine Beute anspringen und zu Boden reißen. Tonka unterdrückte den Impuls, zurückzuweichen.
»Was ist?« Er funkelte sie gefährlich an.
Tonka streckte ihm den Arm entgegen und öffnete dann vorsichtig die Hand.
Als Danilos Blick auf die Fledermaus fiel, verzog ein grimmiges Lächeln seine Lippen. »Endlich!«
Er wandte sich an die Seeleute. »Los, steht auf und macht eure Arbeit, für die wir euch angeheuert haben!«
»Wisst Ihr nun, wohin es geht?«, fragte der Kapitän mit bebender Stimme. Tonka spürte, welche Überwindung es ihn kostete, Danilo anzusprechen.
Der Vampir deutete auf die Fledermaus. »Unser Bote wird uns zeigen, wohin sich das Wild verkrochen hat. Schnell! Trödelt nicht so herum. Wollt ihr meinen Zorn spüren?«
Es hätte der Drohung nicht bedurft. Die vier Männer machten sich eilig daran, die Segel wieder aufzuziehen und in den Wind zu richten. Der Steuermann schwang das große hölzerne Rad herum, und dann nahm das Schiff Fahrt nach Osten auf, hinein in den Trichter der Galway-Bucht.
Die Druidin brauchte fast den ganzen Tag, bis sie den Werwolf aufspürte. Sie passierte die Dörfer Killarone und Oughterard und suchte dann das Gelände der Mine ab. Sie fragte ein paar ausgemergelte Frauen, die auf der Halde arbeiteten, ob in den frühen Morgenstunden etwas Außergewöhnliches geschehen sei, doch die schüttelten nur in stummer Erschöpfung die Köpfe.
Tara ging weiter. Ihre beiden Wölfe führten sie zu der abgelegenen Hütte, die nun allerdings verlassen war, doch die Spuren von Stiefeln und großen Hunden waren noch erschreckend frisch. Tara bückte sich zu
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