Lycana
heiß umworbene Florence Balcombe im vergangenen Jahr die Hand zur Ehe gereicht hatte. Dabei konnte er gar nichts dafür - außer dass er sich genau wie Oscar in sie verliebt hatte. Aber es war Florences Entscheidung gewesen!
Bram begrüßte seinen Freund Oscar und ließ sich dann auf einen der kostbar bezogenen Stühle sinken.
»Charles, bringen Sie Wein für unseren Gast!«, rief die Lady, und der Diener beeilte sich, dem Befehl nachzukommen. »Oder lieber Tee? Oder eine heiße Schokolade?«
Bram blieb bei Wein. Während er an seinem Glas nippte, dachte er, dass Sir William Wildes Witwe durchaus zu leben verstand. Er war der führende Arzt gewesen, wenn es um Krankheiten der Augen und Ohren ging, hatte zahlreiche medizinische Bücher geschrieben und die erste Klinik für diese Leiden in Irland gegründet. Selbst Queen Victoria hatte vor etlichen Jahren nach seiner Beratung geschickt und ihn anschließend in den Ritterstand erhoben, was der Familie zu Reichtum und einem Platz in der höheren Gesellschaft verhalf.
»Was führt Sie zu uns?« Die Stimme Lady Wildes riss ihn aus seinen Gedanken.
»Henry Irving hat mir einige Wochen frei gegeben, nachdem wir eine anstrengende Theatersaison hatten, daher nutze ich die Gelegenheit, die Heimat zu besuchen. Und da ich hörte, dass Oscar ebenfalls in Dublin weilt, beschloss ich, bei Ihnen vorzusprechen. Aber genug von mir. Ich konnte nicht umhin, das Gepäck in der Halle zu bemerken …«
»Ich werde verreisen«, erklärte Lady Wilde. »Und mein Sohn Oscar hat freundlicherweise angeboten, mich zu begleiten.«
Bram Stoker meinte, Missmut über Oscars Miene huschen zu sehen. »Und wohin soll es gehen, wenn ich fragen darf?«
Er wusste nicht, was er erwartet hatte. Vielleicht eines der Seebäder, auch wenn es dafür vielleicht schon etwas spät im Jahr war, oder eine Reise nach Paris oder in den noch warmen Süden. Jedenfalls hatte er nicht mit der Antwort gerechnet, die die Lady ihm gab.
»Nach Connemara? In den Westen Irlands? In die Moore von Connemara? Gibt es dort etwas, das die beschwerliche Reise lohnt? Ich denke bei Connemara nur an einsame Weiten, dünne Schafe und arme Pächter, die sich an stinkenden Torffeuern die Hände wärmen.«
»Wir haben ein Landhaus am Lough Corrib«, sagte die Lady. »Hat Ihnen Oscar nie erzählt, dass er für den archäologischen Führer, den mein Gatte über Connemara schrieb, mit seinem Bruder Höhlen und Steinkreise und manch anderes Zeugnis der Vergangenheit skizziert hat?«
»Und außerdem kann man dort wundervoll angeln und jagen. Die Rebhühner solltest du einmal probieren!« Oscar verdrehte genießerisch die Augen. »Ich mag ja ein lausiger Reiter sein, aber von der Jagd verstehe ich etwas.«
»Dann gehen Sie auf die Jagd?« Zweifel schwang in Brams Stimme. Es fiel ihm schon schwer, sich seinen dandyhaft gekleideten Freund in einer Jagdhütte in den Weiten der Moore vorzustellen; aber erst seine Mutter?
Mutter und Sohn tauschten einen raschen Blick. Etwas Seltsames, Geheimnisvolles lag in der Luft. Dafür hatte Bram ein Gespür. Es ging um mehr als Forellen und Rebhühner. Er setzte sich kerzengerade in seinem Stuhl auf.
»Ich würde mich geehrt fühlen, wenn Sie mich als Freund der Familie betrachteten«, sagte er und sah die Lady an, die ihn mit strenger Miene musterte.
»Ich möchte Sie nicht kränken, Mr Stoker, aber es gibt Dinge, die sollten in der Familie bleiben. Ich hoffe, Sie verstehen das.«
»Mutter, er weiß über dein Pseudonym und deine Arbeit bei der Zeitung Bescheid«, warf Oscar ein. »Ich habe es ihm erzählt.«
Seine Mutter sah ihn überrascht an, fing sich aber sogleich wieder und trug den gleichmütigen Gesichtsausdruck zur Schau, wie es von einer Dame der Gesellschaft verlangt wurde.
»Nun, wenn du deinen Freund einweihen willst, werde ich mich nicht dagegenstellen. Du musst wissen, wem du dein Vertrauen schenkst.«
Bram war sich sicher, dass sie in diesem Augenblick an Florence dachte, doch Oscar, so kam es ihm vor, war längst darüber hinweg. Ja, er schien ihm sogar ein wenig erleichtert, dass sie seinen Antrag abgelehnt hatte, und zeigte keine Eile, sich einer anderen Dame zuzuwenden. »Wir, das heißt eigentlich Mutter, ist von einem Kreis junger Männer aus dem Westen angesprochen worden, ob sie nicht ihr schreiberisches Talent in ihre Dienste stellen wolle.« Seine Mutter hub zu Widerspruch an und Oscar korrigierte sich sofort. »Nein, nicht in ihre Dienste stellen, das ist falsch
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