Lykos (German Edition)
sonst irgendwelche Kontakte zu haben. Sie mussten offensichtlich nicht zur Arbeit und kümmerten sich um nichts, was um sie herum geschah. Selbst der Briefkasten wurde nicht geleert und quoll fast schon über. Beinahe konnte man auf den Gedanken kommen, dass sich niemand in dem Haus aufhielt, aber ab und zu konnte man sich bewegende Schatten und das Flackern eines Fernsehers hinter den fast immer verschlossenen Vorhängen des Hauses erkennen. Genau dieses seltsame Verhalten nötigte den Oberkommissar dazu, die Observation aufrecht zu erhalten.
Angela Damm neben ihm auf dem Fahrersitz gähnte lange und intensiv und schüttelte dann ihren Kopf. „Mann, dieses unendliche Warten ist schlimmer als eine dreistündige Trainingseinheit“, bemerkte sie und stellte den Kragen ihrer Jacke fröstelnd hoch. „Es tut sich überhaupt nichts dort drüben. Dieser Ritsch sitzt gemütlich in seinem Müll und guckt in die Glotze, während wir hier draußen müde und frierend in der Karre hocken.“
„Tja, aber zumindest hat es auch keinen neuen Mord gegeben“, antwortete Straub nachdenklich. Er hatte recht damit. Seit dem Mord an dem Jogger in der vorletzten Woche war kein neuer Fall hinzugekommen. Der Oberkommissar und seine Kollegin hatten sich das letzte Opfer am Folgetag ihrer Rückkehr angesehen und festgestellt, dass der bedauernswerte Mann auf die gleiche Art umgekommen war, wie die drei anderen Opfer vor ihm. Der Täter aus Salzgitter zog somit in der Anzahl der Toten fast gleich mit seinem Pendant auf der spanischen Insel.
„Es ist ja auch kein Vollmond“, stellte Damm trocken fest und weckte ihren Kollegen aus seinen Gedanken.
„Das ist meiner Meinung nach nicht mehr relevant. Der Jogger war einen Tag nach dem Vollmond und auf Mallorca hatten wir ebenfalls keinen vollen Mond. Nur die ersten beiden Taten geschahen genau zu diesem Zeitpunkt. Der Trieb zum Morden wird heftiger, einmal im Monat reicht nicht mehr“, erwiderte Straub.
„Also ... keine Verwandlung?“, fragte Damm mit dem skeptischnachdenklichen Unterton, den sie bei dem Thema immer noch anschlug.
„In den Büchern, die ich über Werwölfe und Lykantrophie gelesen habe, wird diese Beobachtung bei zunehmender Dauer der Krankheit oder wie immer wir das auch nennen wollen, ähnlich dargestellt. Der Vollmond hat nur am Anfang eine Bedeutung, so wie ein innerer Trigger für die Betroffenen. Dann kommt der Drang, sich zu verwandeln oder zumindest zu glauben, dass so etwas mit einem vor sich geht, immer häufiger und unabhängig vom Mondzyklus durch. Schließlich packt der Wahnsinn die Leute endgültig und sie verlieren ihr menschliches Ich vollkommen“, erklärte Straub.
„Donnerwetter, du hast dich aber wirklich ..., sieh dir das an“, bemerkte Damm plötzlich mitten im Satz. Straub blickte sofort hinüber zum Haus und sah, wie sich die Tür öffnete und eine Gestalt hinaustrat. Es war deutlich erkennbar eine Frau und sie schien sich mit Bernd Ritsch, der jetzt ebenfalls zu sehen war, zu streiten. Ritsch versuchte sie am Arm festzuhalten, aber sie schlug die festhaltende Hand mit einer heftigen Bewegung weg und rannte dann schnell davon. Ritsch rief ihr hinterher, folgte ihr aber nicht, sondern ging dann einfach wieder hinein und schloss die Tür.
Die beiden Beamten im Auto hatten die Szene gespannt beobachtet, bereit, jederzeit sofort einzugreifen, falls es zu einer Gewalttat gekommen wäre. Allerdings waren sie jetzt in dem Dilemma, die Frau und den verdächtigen Bernd Ritsch nicht gleichzeitig überwachen zu können. Sie wollten die Frau, von der sie annahmen, dass es sich um Carola Ritsch handelte, nicht ihrem Schicksal überlassen – zumal sie trotz der Kälte nur leichtbekleidet weggelaufen war. Straub benachrichtigte über Funk die Zentrale und forderte einen Streifenwagen an: „Junge Frau, etwa 25-30 Jahre alt, hellblondes, kurzes Haar, schlanke Figur“, beschrieb er die Gesuchte. „Sie läuft zur Zeit den Dürerring in Richtung Humboldtallee hinab, ist nur leichtbekleidet und höchstwahrscheinlich emotional sehr aufgewühlt. Ich möchte, dass sie möglichst ins Präsidium gebracht wird oder eine Aufenthaltsadresse hinterlässt. Kümmert euch bitte darum.“
„OK, geht klar. Die 21 ist in eurer Nähe und schaut mal nach“, kam die Antwort aus der Zentrale.
Straub nickte und konzentrierte sich nun wieder auf das Haus. Es war wieder vollkommen ruhig. Bernd Ritsch kam auch nach längerer Zeit nicht hinaus, um nach seiner Frau zu sehen
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