Lynettes Erwachen
Überredungskunst gebraucht. Die ältere Frau kannte Lynette schon ihr ganzes Leben lang. Durch die zentrale Lage am Markt und das alteingesessene Pub kannte Agnes die ganze Dorfgeschichte und natürlich auch die der Familie Harllow. Wer hatte nicht mitbekommen, wie sich Cynthia benommen hatte? Agnes konnte nicht akzeptieren, dass Lynette nicht mehr das kleine Mädchen war, das vor dreizehn Jahren den Ort verlassen hatte, und Lynette war zu aufgewühlt und durcheinander, um sich in irgendeiner Weise zu rechtfertigen. Unaufhörlich sah Agnes zu ihr herüber.
Als sich die Tür zum Schankraum öffnete und Lynette in das besorgte Gesicht ihrer Freundin sah, konnte sie nur mit Mühe die Tränen zurückdrängen.
Justine kam auf sie zugerannt und nahm sie in die Arme. Wortlos hielten sie einander fest.
„Komm“, sagte Justine. „Lass uns ein paar Schritte laufen.“
Schweigend gingen sie durch die verwaisten Straßen des kleinen Ortes. Es hatte zu nieseln begonnen. Die dicken Wolken hingen schwer über der kargen Landschaft.
„Was hat dich so aus der Fassung gebracht, Süße?“
„Ich weiß es nicht. Der gestrige Abend war toll. Bis meine Vergangenheit über mir zusammengebrochen ist, und ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Alles fühlt sich falsch und unwirklich an. Pausenlos denke ich an ihn, und es tut so weh.“
„Habt ihr miteinander geschlafen?“, fragte Justine.
„Nein … ja … ich weiß es nicht.“
„Was ist denn das für eine Antwort? Du musst doch wissen, ob du mit ihm geschlafen hast oder nicht.“
Lynettes Wangen glühten. Jetzt war für falsche Scham nicht der Zeitpunkt. Wollte sie ihr inneres Gleichgewicht wiederfinden, musste sie offen und ehrlich sein.
„Er hat mich zum Höhepunkt gebracht, aber er war nicht in mir und hat selbst nichts davon gehabt.“
„Wow! Er hat sich nur um dich gekümmert? Ein erstaunlicher Mann.“
Zum ersten Mal an diesem Tag stahl sich ein Lächeln in ihr Gesicht. „Ja, das ist er.“
„Und was hat deine Vergangenheit damit zu tun?“
Lynette begann am ganzen Körper zu zittern und musste stehen bleiben.
„Er hat gesagt, er wird mich das nächste Mal fesseln. Als er weg war, habe ich an Mom und ihre Gier gedacht und begriff, dass ich genauso bin.“
Justine sog zischend die Luft ein. „Sei mir nicht böse, deine Mutter war eine selbstsüchtige, egoistische Schlampe. Du bist nicht im Geringsten wie die.“
„Sie war verbittert und unglücklich“, verteidigte Lynette das erste Mal im Leben ihre Mutter.
„Sie hat dich im Stich gelassen“, beharrte Justine.
„Darum geht es nicht. Ich habe sie verachtet, weil sich ihr ganzes Leben um Sex drehte. Sie hat meinen Vater mit dieser Gier aus dem Haus getrieben und sich willkürlich jedem an den Hals geschmissen. Seit gestern weiß ich, wie berauschend dieses Gefühl ist. Ich habe mich noch nie so lebendig gefühlt.“
„Sex ist wunderbar, aber sie hat ihr Leben dafür weggeworfen und ihr einziges Kind.“
Lynette schwieg. Sie hörte die Wut in Justines Stimme und schämte sich.
„Was denkst du gerade, Lynette?“
„Ich versteh sie“, flüsterte sie. „Ich würde alles tun, um dieses Gefühl noch einmal zu erleben.“
Lynette war verwirrt und durcheinander, das hatte Justine erwartet. Jedoch war sie sich sicher, dass sich Lynette nach mehr als Sex mit Elias sehnte. Wie sollte sie das ihrer Freundin begreiflich machen? Lynette war ein schwieriger Mensch. Hatte sie sich etwas eingeredet, war sie schwer davon abzubringen. Eine gefasste Überzeugung gab sie so schnell nicht wieder auf, und war nicht sehr für Argumente empfänglich. Wo war das lebenslustige, flippige Mädchen, das vor zwanzig Jahren zu ihrer besten Freundin wurde? War sie noch irgendwo da drin?
Mittlerweile waren sie an den Felsen angekommen. Lynette stand geistesabwesend an der Klippe und starrte in die Endlosigkeit des Meeres. Sie sah so verloren und traurig aus, dass es Justine das Herz zusammenschnürte.
„Komm, wir setzen uns unter den Felsvorsprung. Dort ist es trocken und nicht so zugig.“
Der Regen hatte aufgehört, die Luft war von nasser Kälte geschwängert, und Justine fror erbärmlich. Lynette ignorierte die Kälte natürlich, wie sie alles Unangenehme in ihrem Leben ignorierte. Justine war diesem Elias dankbar, dass er es geschafft hatte, diese verfluchte Schale aufzubrechen, die Lynette vor sechzehn Jahren um sich gelegt hatte.
„Ich möchte etwas mit dir tun, Lynette. Darf ich?“
„Willst du
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