Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Lyonesse 1 - Herrscher von Lyonesse

Titel: Lyonesse 1 - Herrscher von Lyonesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Vance
Vom Netzwerk:
hatten keine Stimmen.
    Die Sonne wanderte über den Himmel. Suldrun machte sich widerstrebend auf den Rückweg. Wenn sie noch länger blieb, würde man sie vermissen. Sie ging hinauf durch den Garten, schlüpfte durch die alte Holztür und lief durch den Säulengang zurück zur Burg.
     

3
    Als Suldrun erwachte, war das Zimmer kalt und grau. Ein trübes, feucht-düsteres Licht fiel von draußen durch die Fenster: Der Regen war zurückgekehrt, und die Zofe hatte es versäumt, das Feuer anzuzünden. Suldrun wartete ein paar Minuten, dann schlüpfte sie aus ihrem Bett, zog sich zitternd vor Kälte an und kämmte sich.
    Endlich erschien die Zofe und entfachte hastig und schuldbewußt das Feuer, voller Angst, Suldrun könne sie bei Dame Boudetta anschwärzen. Aber Suldrun hatte das Versäumnis schon längst wieder vergessen.
    Sie ging ans Fenster und schaute hinaus. Der Regen ließ die Sicht verschwimmen. Der Hafen war ein grauer Pfuhl. Die Dächer der Stadt waren zehntausend Formen in verschiedenen Grautönen. Wo waren all die Farben geblieben? Was für ein seltsamer Stoff Farbe doch war! Sie leuchtete im Sonnenlicht, aber in der Trübe des Regens verblich sie. Höchst seltsam. Suldruns Frühstück wurde hereingebracht, und während sie aß, grübelte sie über die Widersprüche der Farbe nach. Rot und Blau, Grün und Violett, Gelb und Orange, Braun und Schwarz: jede mit ihrem eigenen Charakter und ihrem besonderen Wesen, und doch unfühlbar ...
    Suldrun ging hinunter in die Bibliothek zu ihren Lektionen. Ihr Lehrer war jetzt Meister Jaimes, Archivar, Gelehrter und Bibliothekar am Hofe von König Casmir. Suldrun hatte ihn zu Anfang abschreckend gefunden und in ihm Strenge und Pedanterie vermutet, denn er war lang und dünn, und seine große dünne Nase, die gebogen war wie ein Schnabel, gab ihm das Aussehen eines Raubvogels. Meister Jaimes war schon einige Jahre über die Phase des jugendlichen Sturmes und Dranges hinaus; freilich war er noch keineswegs alt, ja noch nicht einmal in seinen mittleren Jahren. Sein borstiges schwarzes Haar war rings um seinen Schädel in gleicher Höhe mit der Stirnmitte gerade abgeschnitten und hing ihm an den Seiten wie ein Dach über die Ohren. Seine Haut war bleich wie Pergament. Seine Arme und Beine waren lang und dürr wie der ganze Oberkörper. Dennoch bewegte er sich mit Würde, ja sogar mit einer gewissen linkisch anmutenden Grazie. Er war der sechste Sohn von Sir Crinsey von Hredec, einem Anwesen, das dreißig Morgen steinigen Hügelgeländes umfaßte, und hatte von seinem Vater außer der vornehmen Abkunft nichts mitbekommen. Er hatte beschlossen, Prinzessin Suldrun mit distanzierter Förmlichkeit zu unterrichten, aber Suldrun hatte rasch heraus, wie sie ihn becircen und ihm den Kopf verdrehen konnte. Er verliebte sich bis über beide Ohren in sie, tat aber so, als sei sein Gefühl nichts weiter als wohlwollende Nachsicht. Suldrun, die eine rasche Auffassungsgabe besaß, durchschaute sein angestrengtes Bemühen, lockere Gleichgültigkeit zur Schau zu stellen, und übernahm das Kommando über den Unterricht beispielsweise als Meister Jaimes wieder einmal stirnrunzelnd eine ihrer Schriftübungen begutachtete und sagte: »Diese A und G sehen ja völlig gleich aus. Wir müssen sie noch einmal schreiben, aber diesmal mit größerer Sorgfalt!«
    »Aber der Federkiel ist ganz stumpf!«
    »Dann spitze ihn an! Aber sei vorsichtig, daß du dich nicht schneidest! Das ist eine Kunst, die du lernen mußt.«
    »Oooh! Oh weh!«
    »Hast du dich geschnitten?«
    »Nein. Ich habe nur schon einmal geübt für den Fall, daß ich mich schneide.«
    »Das brauchst du nicht zu üben. Schmerzschreie kommen ganz von selbst, wenn man sich weh tut.«
    »Wie weit bist du gereist?«
    »Was hat das mit dem Anspitzen eines Federkiels zu tun?«
    »Ich will wissen, ob die Schüler in fernen Ländern wie Afrika ihre Federkiele anders spitzen.«
    »Das kann ich nicht sagen.«
    »Wie weit bist du denn gereist?«
    »Och – nicht allzu weit. Ich habe an der Universität in Avallon studiert und später in Metheglin. Und einmal habe ich Aquitanien besucht.«
    »Was ist der fernste Ort von der ganzen Welt?«
    »Hmm. Das ist schwer zu sagen. Cathay? Die Rückseite von Afrika?«
    »Das kann nicht die richtige Antwort sein!«
    »So? Nun, dann will ich mich gern eines Besseren belehren lassen.«
    »Es gibt keinen solchen Ort. Es gibt etwas, das immer noch ein Stück weiter entfernt liegt.«
    »Ja. Vielleicht ist das so. Und

Weitere Kostenlose Bücher