Lyonesse 3 - Madouc
Er preßte die Schulter an das Holz und drückte kräftig dagegen; mit einem häßlichen Quietschen der verrosteten Angeln schwang die Tür auf. Cassander nickte triumphierend, stolz ob seines Sieges über das bretterne Hindernis. Er winkte Madouc herbei. »Schau! Der geheime Garten!«
Die zwei standen am oberen Rand einer schmalen Schlucht, die hinunter zu einer halbmondförmigen kiesigen Bucht abfiel. Der Garten, einstmals nach dem klassischen arkadischen Stil gestaltet, war jetzt wild überwuchert von Bäumen und Sträuchern mannigfacher Art: Eichen, Ölbäume, Lorbeerbäume, Weißbuchen und Myrten; Hortensien, Sonnenblumen, Narzissen, Thymian, Eisenkraut. Auf halber Höhe der Schlucht markierten ein paar zerborstene Marmorblöcke und eine halb umgestürzte Kolonnade die Stelle, an der einst eine römische Villa gestanden hatte. Nicht weit davon war das einzige noch intakte Gebäude des Gartens zu sehen: eine kleine Kapelle, deren feuchte Mauern von Flechten überzogen waren.
Cassander deutete auf die steinerne Kapelle. »Dort fand Suldrun Zuflucht vor dem Wetter. Sie verbrachte manch einsame Nacht in jenem kleinen Tempel.« Er verzog das Gesicht zu einem schiefmäuligen Grinsen. »Und auch ein paar Nächte, die nicht so einsam waren und die sie teuer zu stehen kamen.«
Madouc blinzelte ob der Tränen, die ihr gekommen waren, und wandte das Gesicht ab. Cassander sagte schroff: »All dies ist viele Jahre her; man sollte nicht ewig trauern.«
Madouc ließ den Blick über den Garten schweifen. »Es war meine Mutter, die ich niemals kennenlernte, und es war mein Vater, der in ein tiefes Loch gesteckt wurde, auf daß er dort sterbe! Wie kann ich da so leicht vergessen?«
Cassander zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich kann dir nur versichern, daß deine Rührung vergeudet ist. Möchtest du mehr von dem Garten sehen?«
»Laß uns dem Pfad folgen und schauen, wohin er führt.«
»Er führt hierhin und dorthin und endet schließlich unten am Strand. Suldrun verbrachte ihre Tage immer damit, den Pfad mit Kieselsteinen vom Strand zu pflastern. Regengüsse haben den Pfad zunichte gemacht; es ist nicht viel geblieben von ihrem fleißigen Werk – oder von ihrem Leben überhaupt.«
»Außer mir.«
»Außer dir! Eine bemerkenswerte Hinterlassenschaft, ganz ohne Frage!«
Madouc ignorierte den Scherz, den sie recht geschmacklos fand.
Cassander sagte nachdenklich: »Tatsächlich bist du überhaupt nicht wie sie. Du gerätst wohl ganz nach deinen Vater, wer oder was auch immer er gewesen sein mag.«
Madouc sagte gefühlvoll: »Da meine Mutter ihn liebte, muß er eine Person von hohem Rang und edlem Charakter gewesen sein! Trotzdem rufen sie mich ›Bastard‹ und behaupten, daß ich keinen Stammbaum habe.«
Cassander runzelte die Stirn. »Wer begeht solche Unhöflichkeit?«
»Die sechs Mädchen, die mir aufwarten.«
Cassander war schockiert. »Wirklich! Sie wirken alle so süß und hübsch – ganz besonders Devonet!«
»Sie ist die schlimmste; sie ist eine richtige Schlange.«
Cassanders Mißvergnügen hatte seine Schärfe verloren. »Ach ja, Mädchen können manchmal frech und naseweis sein. Die Tatsachen können freilich nicht geleugnet werden, so traurig das sein mag. Möchtest du noch weiter gehen?«
Madouc blieb auf dem Pfad stehen. »Hatte Suldrun keine Freunde, die ihr hätten helfen können?«
»Keine, die es gewagt hätten, dem König zu trotzen. Der Priester Umphred suchte sie bisweilen auf; er wollte sie zum Christentum bekehren. Ich hege den Verdacht, daß er noch etwas anderes von ihr wollte, was ihm zweifelsohne verwehrt wurde. Vielleicht war das der Grund, warum er sie an den König verriet.«
»Priester Umphred war also der Verräter?«
»Ich nehme an, er hielt es für seine Pflicht.«
Madouc nickte, während sie die Neuigkeit in sich aufnahm. »Warum blieb sie hier? Ich wäre über die Mauer geklettert und hätte mich aus dem Staube gemacht.«
»Das glaube ich dir gern! Suldrun, so wie ich sie in Erinnerung habe, war von sanfter, träumerischer Art.«
»Trotzdem hätte sie nicht hierzubleiben brauchen. Hatte sie keinen Mut?«
Cassander dachte nach. »Ich vermute, daß sie bis zuletzt auf die Vergebung des Königs hoffte. Und wenn sie denn weggelaufen wäre, was dann? Sie hatte keinen Gefallen an Dreck oder Hunger, noch an der Kälte der Nacht, noch daran, geschändet zu werden.«
Madouc war sich der exakten Bedeutung des Wortes nicht sicher. »Was ist ›schänden‹?«
Cassander
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