Lyonesse 3 - Madouc
ertastete sie ein zweites Mal, um jeden Irrtum auszuschließen. Sie waren noch immer da, klar und deutlich fühlbar. »Hm«, sagte Madouc. »Hoffentlich sehe ich nicht bald wie Chlodys aus.«
Der Herbst verging, und dann der Winter. Für Madouc war das bemerkenswerteste Ereignis das Ausscheiden von Lady Desdea, die sich unter dem Vorwand von Rückenschmerzen, nervösen Krämpfen und allgemeiner Unpäßlichkeit von ihrem Amte entbinden ließ. Gehässige Zungen wisperten, Madoucs eigensinnige Schrullen und ihre allgemeine Widerborstigkeit seien es, die Lady Desdea letztendlich überwältigt und krank gemacht hätten. Und in der Tat: im Spätwinter färbte sich Lady Desdea zitronengelb, begann in der Körpermitte anzuschwellen und starb bald darauf an Wassersucht.
Ihre Nachfolgerin war eine Edelfrau von jüngerem Lebensalter und größerer Flexibilität: Lady Lavelle, die drittgeborene Tochter des Herzogs von Wysceog.
Lady Lavelle, der die vorausgegangenen Versuche, die ungebärdige Prinzessin zu erziehen, nicht unbemerkt geblieben waren, schlug eine andere Taktik ein und ging zwangloser mit Madouc um. Sie setzte – zumindest scheinbar – als selbstverständlich voraus, daß Madouc schon um ihres eigenen Vorteils willen darauf bedacht sein würde, die Listen, Ränke und Kniffe zu erlernen, die es ihr gestatten würden, das höfische Protokoll so zweckdienlich wie irgend möglich zu handhaben. Dies setzte natürlich voraus, daß Madouc zunächst einmal die Konventionen lernen mußte, bevor sie sich daran machen konnte, zu lernen, wie sie sie am geschicktesten umging. Und so eignete sie sich denn wider ihren Willen und halb bewußt um Lady Lavelles Taktik eine oberflächliche Kenntnis des höfischen Prozederes und eine Reihe hübscher kleiner Fertigkeiten auf dem Gebiete der galanten Koketterie an.
Eine Serie von Stürmen brachte heulenden Wind und peitschenden Regen über die Stadt Lyonesse, und Madouc fand sich im Haidion eingeschlossen. Nach einem Monat flaute der Sturm ab, und die Stadt wurde von einer plötzlichen Flut bleichen Sonnenlichts überspült. Nach der langen Haft, die ihr das widrige Wetter auferlegt hatte, dürstete Madouc danach, hinauszugehen und im Freien umherzuschweifen. In Ermangelung irgendeines besseren Ziels beschloß sie, noch einmal den verborgenen Garten aufzusuchen, in dem Suldrun einst vor Gram verschmachtet war.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß niemand sie beobachtete, hastete sie durch den Kreuzgang. Sie schlüpfte durch den Tunnel in Zoltra Hellsterns Wall, huschte durch die verfallene alte Tür und trat in den Garten.
Am oberen Ende des Tals hielt sie inne, um sich umzuschauen und zu lauschen. Sie sah kein Lebewesen und hörte keinen Laut außer dem fernen Rauschen der Brandung. Merkwürdig! dachte Madouc. Im blassen Wintersonnenlicht erschien ihr der Garten weniger düster, als sie ihn in Erinnerung hatte.
Madouc wanderte den Pfad hinunter zum Strand. Die Brandungswellen, vom Sturm vorwärtsgetrieben, krachten mit mächtiger Wucht auf den Strandkies. Madouc wandte sich um und blickte die Schlucht hinauf. Suldruns Verhalten erschien ihr unbegreiflicher denn je. Laut Cassander hatte sie sich nicht dazu überwinden können, sich den Fährnissen und Entbehrungen eines Lebens auf der Landstraße zu stellen. Aber was hätte ihr zustoßen sollen? Für eine kluge Person, die entschlossen war, zu überleben, gab es Mittel und Wege, die Gefahren auf ein Minimum herabzusetzen und vielleicht sogar zu umgehen. Doch Suldrun, furchtsam und apathisch, wie sie war, hatte es vorgezogen, in dem verborgenen Garten dahinzuwelken, und so war sie denn am Ende gestorben.
»Wäre ich an Suldruns Stelle gewesen«, sagte sich Madouc, »ich wäre im Nu über den Zaun geklettert und hätte mich aus dem Staub gemacht! Sodann hätte ich mich als Knabe ausgegeben, und als Aussätziger dazu! Ich hätte Schwären auf meinem Gesicht vorgetäuscht, um jeden abzuschrecken, der mir zu nahe gekommen wäre, und die, die sich nicht hätten abschrecken lassen, hätte ich mit einem Messer erstochen! Wäre ich Suldrun gewesen, ich wäre heute noch am Leben!«
Madouc machte sich auf den Rückweg. Es gab Lehren zu ziehen aus jenen tragischen Ereignissen von ehedem. Erstens: Suldrun hatte auf König Casmirs Gnade gehofft, doch umsonst. Was das bedeutete, war klar. Eine Prinzessin von Lyonesse hatte sich so zu vermählen, wie Casmir es wünschte, oder sie zog sich sein gnadenloses Mißfallen zu. Die
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