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Lyra: Roman

Lyra: Roman

Titel: Lyra: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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die Wüste, an das Leben als Fremder ohne Namen, ewig auf der Suche nach der Lyra, seinem Gral, hallte noch immer in ihm nach. Er war jetzt zwar hier, aber er trug die Erinnerungen jenes Lebens mit sich herum.
    »Danny Darcy, wir sind da!«
    Sie standen vor einer Tür, hinter der leise Musik erklang.
    Es war ein uraltes Lied aus Arkadien, das da gesungen wurde. Danny verstand die Sprache nicht, aber er ging davon aus, dass es Griechisch war. Oder etwas in der Art.
    Calypso hielt inne. Ihre Augen glänzten, als würde die Melodie ihr eine ganz spezielle Erinnerung schenken.
    »Sie haben noch nicht begonnen«, flüsterte sie.
    »Was ist das?«, fragte Danny.
    »Ein Lied.«
    Danny verdrehte die Augen. »Welche Bedeutung hat es?«
    »Es bereitet auf die Erneuerung vor. Es handelt vom Sterben und vom Leben und den Dingen, die dazwischen liegen.«
    Danny zuckte die Achseln.
    Am Ende war es egal, welches Lied sie da spielten.
    Er musste Sunny und die Kleine retten.
    »Warte noch!«, forderte sie ihn auf.
    Sie kauerten vor der Tür, hielten den Atem an. Calypsos Duft stach ihm in die Nase.
    Ein leises Wimmern erklang von drinnen.
    Danny hatte genug gehört.
    Er öffnete die Tür und betrat den Raum.
    Calypso nicht. Sie hielt sich im Hintergrund. Verborgen noch vor den Augen ihrer Schwestern.
    Wie ein Fremder ohne Namen stand Danny da.
    Breitbeinig, bereit, als Erster die Revolver zu ziehen.
    High Noon.
    Doch das Bild, das sich ihm bot, zerriss ihm schier das Herz.
    »Sunny?«, entfuhr es ihm.
    Dann ging er ganz hinein.
    Es war ein Schlafzimmer, alt und staubig. Die meisten Möbel waren mit weißen Tüchern bedeckt, das Fenster weit geöffnet, so dass die warme Nachtluft hineinströmen konnte. Es roch nach der Hitze des Tages, die in der Nacht gefangen war, nach Schlick und Schlamm, und in der Ferne hörte man den Donner über die Sümpfe rollen.
    Ein großes Bett stand in der Mitte des Raumes, und Sunny lag darin. Sie schlief, tief und fest. Danny hatte keine Ahnung, was sie mit ihr gemacht hatten. Sie sah wunderschön aus, hatte die Haare zu zwei Zöpfen gebunden wie damals, als sie sich kennengelernt hatten.
    Vor ihr, in zwei verschnörkelten Sesseln, saßen Madame Cacaelia und Madame Cal.
    Sie sahen Danny mit einer Mischung aus Neugierde und aufgesetzter Gleichgültigkeit an.
    Danny ignorierte sie.
    Er lief zu Sunny hin.
    Verdammt, er glaubte vor Sehnsucht und Glück vergehen zu müssen. Er fühlte sich, als habe er sie eine halbe Ewigkeit lang nicht mehr gesehen, all die Jahre, in denen er allein durch die Wüste gezogen war und einer Spur gefolgt war, die nirgendwohin führte.
    Erst jetzt merkte er, was die Geschichte, die er hatte durchleben müssen, mit ihm gemacht hatte.
    Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Erinnerung an Sunny fast schon verblasst gewesen war. So ausgeblichen wie das Leder seiner Stiefel, wie der Hut, den er getragen hatte, all die Jahre über. Er dachte an das Pferd und den Maulesel, die ihn begleitet hatten. Es war kein Traum gewesen, nein, etwas anderes. Es war real gewesen, fast fünfzig Jahre lang, mehr vielleicht sogar, und alles, was ihn hatte altern lassen, war noch da, lebte in ihm, seufzte, krächzte, tat weh.
    Oh, Sunny, dachte er.
    Dann wandte er sich den Damen zu.
    »Haben Sie den Verstand verloren?«, herrschte er sie an. »Was haben Sie vor?«
    Die Damen schauten auf.
    Beide hatten sie mit geschlossenen Augen in den Sesseln vor dem Bett gesessen und andächtig einer zerkratzten Schallplatte gelauscht, die dunkle seltsame Gesänge spielte. Das Grammophon, das die Schallplatte trug, war alt und sein Trichter, der wie die Blüte einer Orchidee geöffnet war, riesig.
    »Sieh einer an. Sie sind wieder da.« Madame Cacaelia wirkte gefasst. »Zurückgekehrt.«
    Sie sah auf die Wanduhr. »Jetzt schon.« »So früh.«
    Danny vergeudete die Zeit nicht mit Höflichkeiten. »Ich weiß, was Sie vorhaben.« Die beiden sahen einander überrascht an.
    Und Danny wurde bewusst, was sie sich so verhalten ließ, wie sie es taten. Er war ihnen egal. Seine Anwesenheit war ihnen egal. Er war lange genug fort gewesen.
    DAS machte ihm Angst.
    Denn wenn ihnen egal war, ob er hier im Raum stand oder nicht, dann konnte das doch nur bedeuten, dass sie keinerlei Gefahr in ihm sahen.
    Madame Cal fragte lapidar: »Haben Sie die Lyra gefunden?«
    Danny ballte die Fäuste. »Nein.«
    Er berührte Sunnys Wangen. Sie waren warm, winzige Schweißperlen benetzten ihre Stirn. Sie trug eins der Kleider, die sie im Rucksack

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