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Lyra: Roman

Lyra: Roman

Titel: Lyra: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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die alte Geschichte.«
    Und Margery begann: »Unsere Eltern kamen in den 50er Jahren hierher. Die wachsende Ölindustrie suchte neue Arbeiter. Von überallher, aus dem ganzen Umland, wanderten die Menschen dorthin, wo das Öl gefördert wurde.«
    »Die zerfallenen Bohrtürme von damals findet man auch heute noch in den Bayous«, schaltete Henri sich wieder ein.
    Margery nickte und erinnerte sich sodann: »Meine Mutter hat mir erzählt, wie sie einmal eine Frau getroffen hat, drüben in den Bayous.« Sie rieb sich die Arme, als streife ein kalter Hauch ihre Haut. »Mutter war allein dort draußen, weil sie Schlangen fangen wollte.«
    »Das war ein einträglicher Nebenverdienst damals.«
    »Ja, wenn man ihnen die Haut abzog«, erklärte Margery, »was recht schnell ging. Wenn man geübt darin war, dann brachte einem das einige Dollar extra ein.« Sie zupf te nervös an einem Stück Brot herum. »Sie müssen wissen, dass es damals noch keinen Highway 90 gab, der wurde gerade erst gebaut. Sie fuhr also mit einem kleinen Boot in den Bayou Zydeco.«
    »Der Wind bläst stark dort draußen«, erklärte Henri, »und er lässt die Äste der Bäume knarren, was sich manchmal so anhört wie die Musik, deshalb der Name. Zydeco.«
    Danny fröstelte unwillkürlich bei dem Gedanken.
    Margery nickte. »Wie gesagt, sie fuhr dorthin und fing die Schlangen. Es war nicht sehr schwierig, nicht mal für eine Frau. Man musste nur ruhig im Boot ausharren und geduldig warten, bis eine Natter vorbeischwamm.« Sie klatschte in die Hände. »Dann schlug man ihr mit einem Stock auf den Kopf. Es musste ein gezielter Schlag sein, weil die Nattern sehr giftig sind.«
    Danny stocherte in seinem Essen herum.
    Sunny lauschte der Geschichte mit leisem Ekel.
    »Okay«, kam Margery in Fahrt, »sie saß also dort in ihrem Boot und wartete auf die nächste Schlange. Das Boot trieb ruhig den Bayou entlang, und Mutter verhielt sich ruhig.«
    Dann sah sie die Frau.
    Sie war wunderschön und saß auf einem knorrigen Baumstumpf, der wie eine knöcherne Hand aus dem Wasser ragte. Sie trug ein weißes Kleid, das nass war, so dass sich ihr Körper darunter abzeichnete.
    »Sie rief meine Mutter zu sich her, aber Mutter fürchtete sich vor der fremden Frau.«
    Es war kein Boot zu sehen, nichts. Sie hatte keine Ahnung, wie die Frau auf den Baumstamm gekommen war. Sie konnte sich nicht erklären, wer sie war.
    »Obwohl sie natürlich von les viperes gehört hatte. Damals schon.«
    Die Frau lockte sie zuerst mit Worten, dann begann sie zu singen.
    »Es war ein Lied, wie Mutter es zuvor noch nie vernommen hatte.«
    Sie sah Bilder und wusste plötzlich gar nicht mehr, wie ihr geschah.
    »Ich weiß, ich weiß, das klingt jetzt ein wenig seltsam«, fuhr Margery fort, »aber meine Mutter glaubte, nicht mehr im Bayou zu sein.«
    Sie sah ein großes Haus, »Ein altes Haus«, betonte sie mit leiser Stimme, »glänzend im roten Schein der untergehenden Sonne, und dort lebte die wunderschöne Frau.«
    Eine Hand ergriff die ihre und führte sie ins Haus hinein. Die seltsam betörende Melodie drang ihr in Ohren und Hirn, süß und wie Zucker, klebrig und einlullend.
    »Mutter fürchtete sich, denn in dem Haus war ihr ganz und gar nicht geheuer.«
    Und als die Hand der schönen Frau ihren Bauch berührte, da entfloh ihr ein Schrei, der so laut war, dass er sogar den Gesang der Frau übertönte. Die Melodie wurde einen Moment lang überlagert, dann brach sie ab.
    »Mutter war wieder im Bayou.«
    Die Frau indes saß noch immer auf dem Baumstumpf Wütend funkelte sie ihr Gegenüber in dem Boot an.
    Margery schien zu erschaudern. »Mutter startete den Motor und floh.«
    »Sie kehrte nie, nie wieder in diesen Bayou zurück«, beendete Henri die Geschichte seiner Schwester.
    Stille legte sich über den Garten und die Veranda. Weiter hinten, wo die Bäume standen, erstarrten die Bewegungen in den Schatten.
    »Und Sie glauben, dass dies eine der Frauen aus dem Maison Rouge war?«
    Margery zuckte die Achseln. »Na ja, das weiß ich nicht. Aber meine Mutter erzählte noch etwas.« Ihre Stimme wurde noch tiefer, jetzt, da die Sonne fast schon versunken war und die Dunkelheit um sich griff.
    »Zehn Jahre später«, sagte Margery, »Henri war neun Jahre alt, ich sieben, sah Mutter im Rathaus ein Bild.«
    »Sie suchte Arbeit«, erläuterte Henri, »und die offenen Stellen wurden im Rathaus vermittelt, also ging sie dorthin.«
    Das Foto, das sie dort erblickte, war im Jahre 1915 gemacht worden.

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