Mabel Clarence 03 - Schatten ueber Allerby
entgegen, musterte sie mit ausdrucksloser Miene und fragte: „Sie sind also die Pflegerin des Hausherrn? Seit wann arbeiten Sie auf Allerby, Miss Daniels ?“
Offenbar bemerkte nur Mabel die besondere Betonung des Namens.
Glücklicherweise wurde sie einer Antwort enthoben, da Jane Carter-Jones einwarf: „Gerade mal eine Woche, Chefinspektor. Nach dem Tod von Michelle – meiner Schwägerin – mussten wir jemanden einstellen, der sich um meinen Bruder kümmert. Miss Daniels wurde uns von einer Agentur in Truro geschickt.“
„So, so.“ Warden kratzte sich am Kinn, dann sah er Mabel mit einem unergründlichen Blick an. „Sie sind informiert, was geschehen ist?“
Mabel nickte. Der Kloß in ihrem Hals löste sich langsam auf, und sie begann, sich zu entspannen. Offenbar hatte Warden nicht vor, sie jetzt und hier vor allen als Betrügerin bloßzustellen. Allerdings konnte sie sich keinen Reim auf sein Verhalten machen. Sie würde aber selbstverständlich mitspielen.
„Miss Thorn hat uns – das Personal – informiert. Es soll einen Toten im Park gegeben haben? Erstochen?“
„Es sieht alles danach aus. Näheres werden wir aber erst nach der Obduktion wissen, Miss. Im Moment ist es wichtig zu erfahren, wer dieser Mann ist. Bourke“, er winkte seinem Mitarbeiter, „zeigen Sie Miss Daniels bitte das Foto!“
Erst jetzt bemerkte Mabel die Kamera, die auf dem Tisch neben Christopher Bourke lag. Der Sergeant nahm sie zur Hand, tippte kurz darauf herum, dann erschien das Foto eines Mannes auf dem Display.
„Wir können es Ihnen leider nicht ersparen, sich ein Foto des Toten anzusehen“, sagte Warden. „Aber Sie sind ja an den Anblick von Leichen gewöhnt.“
„Was soll das heißen?“ Jane Carter-Jones schoss hinter Lord Douglas’ Rollstuhl hervor. „Sie wollen doch nicht andeuten, dass Miss Daniels …“
„Keineswegs“, unterbrach Warden sie und hob die Hand. Er merkte, dass er sich beinahe verraten hatte. „Ich meine nur, als Krankenschwester wird Miss Daniels beim Anblick eines Toten wohl nicht gleich zusammenklappen, nicht wahr, Miss Daniels?“
Mabel nickte. Ihre Kehle war trocken, und sie sehnte sich nach einem großen Glas Wasser oder noch besser einem guten Malt oder Brandy, obwohl sie nur selten Alkohol trank. Sergeant Bourke hielt ihr die Kamera hin, und Mabel sah das Gesicht eines etwa dreißigjährigen Mannes, der eindeutig tot war. Das erkannte sie an seinen starren, weit aufgerissenen Augen. Sie hatte den Mann nie zuvor gesehen, etwas fiel ihr aber sofort auf.
„Es muss sich um einen Ausländer handeln“, sagte sie. „Nordafrikaner oder aus dem Nahen Osten, schätze ich.“
„Überlassen Sie solche Rückschlüsse uns“, wies Warden sie scharf zurecht. „Kennen Sie den Mann? Ja oder nein?“
„Nein.“ Mabel hob bedauernd die Hände. „Es tut mir leid, Chefinspektor, aber der Tote ist mir völlig unbekannt.“
„Da haben Sie es, Chefinspektor Warden“, mischte Jane Carter-Jones sich wieder ein. „Keiner unserer Angestellten hat den Toten jemals gesehen oder gar etwas mit ihm zu tun gehabt. Es wird ein Landstreicher gewesen sein, der sich in unserem Park herumtrieb. Das Grundstück ist offen und für jedermann zugänglich. Es kommt immer wieder vor, dass Leute bei uns eindringen, die offenbar die Verbotsschilder nicht lesen können. Vielleicht wollte der Mann auch das Haus ausspionieren, um später einzubrechen. Wir wissen ja, was von Ausländern zu halten ist; denen kann man nicht über den Weg trauen, denn …“
„Halt den Mund, Jane!“ Zum ersten Mal ergriff Lord Douglas das Wort, und obwohl er leise gesprochen hatte, ließ die ungewohnte Schärfe seiner Worte Lady Jane tatsächlich verstummen. Lord Douglas sah zu Warden und sagte: „Verzeihen Sie, Chefinspektor, meine Schwester meinte es nicht so. Wir sind nicht ausländerfeindlich.“
Warden runzelte die Stirn und überlegte. Lady Janes Vermutung ließ sich nicht völlig von der Hand weisen.
„Selbst wenn es sich um einen Landstreicher handeln sollte – warum wurde er dann auf Ihrem Grund und Boden erstochen?“
Auch darauf hatte Lady Jane eine Antwort parat, mit der sie nicht hinter dem Berg hielt: „Vielleicht hatte er einen Komplizen und geriet mit diesem in Streit? Der andere konnte natürlich ungesehen verschwinden, denn der Tatort ist vom Haus aus nicht einsehbar.“
Mabel war über diesen Einwurf erstaunt; so viel Scharfsinn hätte sie Lord Douglas’ Schwester gar nicht zugetraut. Deren
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