Macabros 009: Blutregen
Geisterhäuschen.
Vor jedem Taihaus standen sie. In diesem prachtvoll geschnitzten
und bemalten tempelähnlichen Gebilden wohnte der sogenannte
Hausgeist der Familie. Man nennt ihn Chao Ti. Er bewachte das Haus
und die Familie, wehrte alles Böse ab. Auf dem kleinen Altar
davor lagen frische Blüten, manchmal auch Früchte, oft
Räucherstäbchen, die stundenlang glimmten.
Chao Ti, der Hausgeist! Camilla wünschte sich, jetzt auch
einen zu haben, einen der das Böse, das von ihr mehr und mehr
Besitz ergreifen wollte, abwehrte.
Es kam näher. Sie fühlte es.
Der Wind pfiff um ihre Ohren. Aber die Kronen der Kokospalmen
bewegten sich nicht. Die Luft stand warm und unbewegt.
Nur in der Daseinsebene, in die sie geschleudert worden war,
ereigneten sich die Veränderungen.
Sie warf einen Blick zurück.
Dabei lief sie weiter. Das wurde ihr zum Verhängnis. Sie
stolperte über ihre eigenen Füße.
Mit einem leisen, erschreckten Aufschrei stürzte sie zu
Boden.
Ein brennender Stich durchbohrte ihren Knöchel.
Sekundenlang wagte sie nicht, sich zu rühren.
Die Schmerzen kamen in Wellen, verstärkten sich.
Sie nutzte die Zwangspause, um Atem zu schöpfen.
Ihre Augen starrten Richtung Meer.
Von dort kamen sie. Aus den unerforschten Tiefen der Wasser.
Dunkelrote Wellenberge türmten sich am Himmel, die
Ränder der Riesenwolken glühten in einem tiefen,
unheimlichen Violett.
Der undurchdringliche Dunst stieg vom Meer empor und mit dem Dunst
kamen die Ursen.
Sie hockten auf ihren Reittieren, mächtigen Fischen, deren
breite Mäuler halb geöffnet waren. Riesige Glotzaugen
blickten starr, die Körper schimmerten von unten her hell, und
die Ursen, selbst Schuppenwesen, hockten auf den schuppigen
Körpern wie angewachsen.
Hin und wieder trieb der stärker werdende Wind einige Tropfen
durch die Luft. Aber es war kein Regen.
Es waren Blutstropfen. Mit dem Näherkommen des Heeres, das in
Wind und Wolken aus dem Meer entstieg, wurden die Tropfen
praller.
Camillas Herz schlug wie rasend.
Sie sah sich in einer Sackgasse. Sie konnte sich nicht erheben,
sie hatte sich den Fuß verknackst, und ihre Feinde kamen
näher.
Warum wich diese grausige Vision nicht, die sie erschreckte, sie
in Panik versetzte, weil sie ahnte, daß ihre eigenen
Kräfte dieses entsetzensverbreitende und im Blut lebende Volk
gerufen hatten?
Unheimliche sphärenhafte Klänge wurden mit dem Wind an
ihr Gehör getragen, verstärkten Angst und Grauen.
Die großen Fische mit den breiten Mäulern, in denen die
Zahnreihen wie Speere funkelten, kamen näher, füllten das
Blickfeld vor ihr.
Die fischgesichtigen Ursen trugen in ihrer Rechten lange, gezackte
Speere.
Die Bilder, die Camilla Davies empfing, waren so erdrückend,
daß sie kaum atmen konnte. Ihr Herz schlug so schnell und
heftig, daß sie meinte, es müsse ihre Brust sprengen.
Vor ihren Augen begann alles zu flimmern.
Der Wind traf voll ihr Gesicht, der Regen peitschte ihren
Körper und durchnäßte sie im Nu.
Blut! Das Blut all derer, die dem Ruf der Unheimlichen aus dem
Meer gefolgt waren, die Opfer gebracht hatten. Menschenopfer! Das
Blut der Opferdarbringenden und der Opfer! Ein Meer aus Blut.
Wieso wußte sie dies alles?
Die drei vordersten Ursen mit ihren merkwürdigen Reittieren
waren nun ganz dicht heran.
Unheimliche Stimmen erfüllten das Hirn des empfindsamen
Mediums.
Die Töne waren so gräßlich, daß sie wie
Rasiermesser in ihr Hirn schnitten.
»Ich will weg hier! Neeeiiin!« Gequält entrann der
Schrei ihrer Kehle. »Professor Baring! Warum helfen Sie mir
nicht?«
Sie starrte auf die Ursen. Einer streckte seinen gezackten Speer
aus, deutete auf sie.
»Professor Baring! Helfen Sie mir doch! Wecken Sie mich
endlich aus diesem furchtbaren Traum! Dies alles hat nichts mehr mit
dem Geist von Gladis Corkshere zu tun. Holen Sie mich heraus –
aus diesem Alptraum!«
Sie war bis auf die Haut durchnäßt vom Blutregen, der
vom Himmel fiel. Aber nicht vom Himmel der realen Welt.
Die merkte nichts. Sie ahnte nichts von den Qualen und
Todesängsten, die diese junge Frau durchmachte, die in eine Welt
geraten war, in die sie nicht gehörte.
In den nahen Häusern rührte sich nichts. Kein Licht ging
an, kein Mensch zeigte sich.
Der Sturm war schrecklich. Er riß an ihrer nassen, auf dem
Körper klebenden Kleidung.
Die Wolken hingen ganz tief.
Sie berührten die Spitzen der Hausgiebel, die Spitzen der
Tempel. Tief und drohend wälzten sich die Wetterwolken einer
anderen Welt auf
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