Macabros 022: Phantom aus dem Unsichtbaren
Seele eines jungen Mädchens
auserwählt. Sie gehört dir. Du wirst nicht nur in ihrer
Gestalt, sondern auch in deiner alten ursprünglichen die Welt
der Lebenden durchstreifen, aber du weißt, daß du auf der
anderen Seite auf Nahrung angewiesen bist. Wie ein Vampir wirst du
dich vom Blut deiner Opfer nähren, wirst die Nacht nutzen und
den Tag meiden und jederzeit meinen Willen erfüllen.«
»Ja, großer Orlok.«
»Dein erster Weg wird dich zu diesem Mann führen, den du
vor dir siehst. Bring ihm die Todesblume, damit sein Körper zum
Schatten wird und damit mir willfährig. Wenn er erwacht, wird er
nicht ahnen daß sein Geist, seine Seele nicht mehr frei sind.
Er wird den Weg zu mir finden, um zu kämpfen. Aber er wird nur
noch ein Schatten und damit mein Verbündeter sein. Ich freue
mich auf den Augenblick, da er dir gegenübersteht, da er glaubt,
dir zu helfen – aber er wird sich wie ein hungriger Wolf auf
dich stürzen und dir das Leben aus dem Körper saugen
wollen, denn verbrennen wird ihn der Wunsch nach Leben, wie ihn alle
haben, die in die vergessene Stadt und den Tempel der Toten
kommen.«
*
Orloks mächtige Hand kam aus dem düsteren Hintergrund.
Zwischen seinen gewaltigen Fingern hing eine kleine dunkelblaue
Blüte.
Die Untote griff danach.
Sie stieg auf den Rand des großen Brunnens und sprang.
Unwillkürlich beugte Carmen de Silva sich zurück, in der
Erwartung, daß das bläuliche Wasser ihr ins Gesicht
spritzen würde.
Das war nicht der Fall.
Die Untote tauchte ein wie in ein Wolkenmeer und verschwand. Das
Bild im Wasserspiegel, das eben noch das Krankenzimmer und den
Fremden zeigte verlöschte.
Es war, als ob eine Blende sich schließe.
»Willst du sehen, was geschieht?« fragte Orlok ironisch.
»Dann blick’ in den Spiegel! Das Auge des Schwarzen Manja
wird sich gleich wieder öffnen.«
*
Die Krankenschwester zog den Stuhl zurück und nahm Platz an
dem kleinen quadratischen Tisch.
Sie machte eine Eintragung in ein Buch und war gerade dabei, die
nächste Seite umzulegen, als von der Tür her ein Schatten
über sie fiel.
Überrascht blickte die Schwester auf. »Ja, bitte?«
fragte sie verwundert. Eine fremde junge Frau trat über die
Schwelle zum Schwesternzimmer. Die Unbekannte trug in der Rechen eine
einzelne Blume.
Schwester Renata musterte die Besucherin. Sie war jung, trug einen
bis über die Knöchel reichenden, buntgemusterten Rock und
eine zitronengelbe Bluse.
Sie hatte langes, schwarzes Haar und eine schokoladenbraune Haut.
Sie war keine Negerin. Renata mußte unwillkürlich an eine
Insulanerin denken, und sie ahnte nicht, wie nahe sie mit ihrer
Vermutung der Wirklichkeit kam.
Sie hatte die Fremde noch nie hier gesehen und konnte sich nicht
daran erinnern, daß jemand hier eingeliefert worden wäre,
dessen Begleiterin diese junge Exotin gewesen war.
Ob die Fremde eine Auskunft wollte?
Renata blickte sie lächelnd an. »Kann ich Ihnen
irgendwie dienlich sein, Señorita?«
»Aber sicher«, sagte die Fremde, zwei Reihen
weißer, blitzender Zähne zeigend. Die Exotin stand dicht
vor der Krankenschwester. »Ich möchte einen Besuch
machen.«
»Aber Señorita! Um diese Zeit. Es ist nicht
üblich und…« Weiter kam sie nicht.
Da streckte die Fremde ihre Rechte aus, welche die dunkelblaue
Blüte hielt.
Renata fühlte die samtweichen Blütenblätter ihre
Gesichtshaut berühren. Sie wollte noch etwas sagen, aber kein
Laut kam mehr über ihre Lippen. Schwer wie Blei fühlten
sich plötzlich ihre Glieder an. Die Todesblume aus dem magischen
Jenseitsreich Orloks hatte sie berührt.
Ihr Atem versiegte, ihr Herz blieb stehen. Ihr Körper wurde
seltsam durchscheinend wie ein Schemen. Für Bruchteile von
Sekunden flatterte ein lautloser Schatten über dem Stuhl, auf
dem eben noch die Krankenschwester gesessen hatte.
Der Schatten löste sich aus dem Zimmer. Die Schwester war der
Todesblume zum Opfer gefallen. Ihre Lebensenergien passierten die
geheimnisvolle, unsichtbare Grenze zwischen Diesseits und
Jenseits.
Die Besucherin aus dem finsteren magischen Reich des Phantoms
grinste teuflisch.
Die Todesblume hatte ihre furchtbare Wirkung gezeigt. Orlok
würde zufrieden sein.
Der Todesschatten des Opfers würde jetzt in der Stadt der
Toten ankommen und einem Wartenden, der sich unter die Lebenden
mischen wollte, eine neue Seele spenden.
»Und nun zu dir, Björn Hellmark«, wisperte Saionan,
das Mädchen aus Moorea. Aber die Untote hatte nur deren Leben
und
Weitere Kostenlose Bücher