Macabros 022: Phantom aus dem Unsichtbaren
eine kleine Kammer, in der
außer einem alten Messingbett und einem
selbstzusammengezimmerten Kleiderschrank nichts weiter stand.
Janina sah auch dort nach. Das Bett war benutzt, aber Manuel lag
nicht mehr darin.
Unruhe erfüllte sie, die sie sich nicht erklären
konnte.
Manuel Sallas hielt sich auch nicht im Atelier auf. Zum ersten Mal
in all den Jahren im Zusammenleben mit ihrem ungewöhnlichen
Bruder war etwas eingetreten, das sie nicht verstand.
Janina stand vor dem letzten Bild, das Manuel gestern im Traum
gemalt hatte und das eine unbekannte, attraktive Person in einer
phantastischen und bedrohlichen Umgebung zeigte. Der
Götzenkoloß im Hintergrund wirkte nun im Tageslicht noch
wuchtiger, noch furchterregender. Und so lebendig.
Janina Sallas erschauerte unwillkürlich. Sie kannte jedes
einzelne Bild, das ihr Bruder gemalt hatte, und sie hätte sich
mit den rätselhaften Trancebildern besonders intensiv
befaßt. So überzeugend, so lebensnah aber war ihm noch
keines gelungen wie das letzte, das im Beisein jenes Jean Baptiste
Renion entstanden war.
Der Himmel war strahlend blau. Ein wundervoller Morgen. Und doch
fühlte sie sich seltsam bedrückt und von finsteren Gedanken
erfüllt.
Das kleine Haus, das Manuel und sie hier in der Abgeschiedenheit
gemietet hatten, bestand aus insgesamt vier Zimmern. Zwei unten, zwei
oben. Manuel Sallas war jahrelang ruhelos durch die Lande gewandert,
bis er in die Berge kam, das Haus sah und sich entschloß,
hierzubleiben.
Janina wußte, daß ihr Bruder seitdem wie ein
Besessener malte und seine Bilder sich von denen unterschieden, die
er davor gemalt hatte.
Manuel kannte die Landschaften. Er hatte sie wirklich gesehen. Nie
aber waren Menschen in diesen fremden Landschaften, in den bizarren
Höhlen und Hallen zu sehen gewesen. Bis gestern abend, als das
Bild »Carmen im Tempel Orlok« entstanden war.
Von diesem Augenblick an hatte sich Manuels Wesensart
verändert.
Janina wollte das Atelier schon verlassen, als ihr Blick auf einen
hellen Fleck unterhalb der Staffelei fiel.
Ein Briefumschlag!
Sie bückte sich. Der Umschlag war verschlossen. Darauf stand:
»An Janina.«
Die Unruhe in ihr wuchs, als sie ihn aufriß. Manuel
mußte ihn vor das Bild der Staffelei gestellt haben, aber da
das Dachfenster offenstand, war es leicht möglich, daß ein
Windstoß den Umschlag heruntergeweht hatte.
In Manuels gestochen klarer Schrift stand auf einem in der Mitte
gefalteten Bogen zu lesen:
»Du darfst nicht traurig sein, wenn Du diesen Brief findest.
Ich werde dann schon weit weg sein. Ich möchte Dir danken
für all das, was Du für mich getan hast. Dir war nie etwas
zuviel, obwohl ich doch gar nicht Dein Bruder war…«
*
Ein Ruck ging durch ihren Körper. Der letzte Satz brannte wie
Feuer in ihren Augen.
Obwohl ich gar nicht dein Bruder war? Wie konnte er nur so etwas
schreiben?
Was meinte er damit?
Es lief ihr abwechselnd heiß und kalt über den
Rücken, und ihre Hände begannen zu zittern.
Was ging hier vor?
Mit dem Besuch des Fremden hatte alles begonnen.
Manuel hatte das Haus verlassen. Dieser Abschiedsbrief sagte alles
– und nichts.
Nähere Erklärungen hätte sie gebraucht. Entweder
konnte oder wollte Manuel ihr die nicht geben.
Als sie den Bogen zusammenfaltete, entdeckte sie auf der anderen
Seite einen Satz, der durchgestrichen war. Ursprünglich hatte
Manuel anders angefangen.
»Ich muß tun, was meine Aufgabe ist…« konnte
sie entziffern.
Seine Aufgabe? Seine Aufgabe war es, zu malen…
Den Brief in der Hand, rannte sie die Treppen nach unten. Janina
bereitete sich kein Frühstück und überbrühte sich
nicht mal eine Tasse Kaffee. Keine zehn Pferde hätten sie jetzt
im Haus halten können.
Sie schlüpfte in eine Strickjacke und verließ das Haus.
Rechts neben dem Eingang stand ein alter Bretterschuppen, der ihnen
als Garage diente. Darin standen ein 2 CV und ein Fahrrad.
Manuel war zu Fuß fortgegangen. Wann war er
aufgebrochen?
Davon hatte sie keine Vorstellung, aber einen Verdacht.
Janina Sallas startete den Wagen. Er sprang sofort an.
Rückwärts stieß sie aus der Garage, wendete auf dem
sandigen Platz vor dem Haus und fuhr dann den schmalen, steilen Weg
nach unten ins Dorf.
Ob Manuel sich mit diesem Jean Baptiste Renion getroffen
hatte?
Die Möglichkeit war nicht von der Hand zu weisen. Sie kannte
die Herberge, in der der Franzose Unterkunft gefunden hatte. Manuel
hatte Wert darauf gelegt, daß Jean Baptiste Renion dort
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