Macabros 023: Gefangen im Totenmaar
hatten.
»Über die hab’ ich doch mal was gelesen. Ist schon
rund zwanzig Jahre her, daß behauptet wurde, sie sei mit Mann
und Maus untergegangen. Und da begegnen wir dem Blechhaufen! Sieht
aus wie ein Gespensterschiff. Kein Mensch zu sehen.«
Sie sahen sich die »Tina« näher an. Eine Gruppe von
fünf Männern, an ihrer Spitze der Kapitän, des
Öltankers, schaute sich drüben um.
Rund zehn Leute trieb man auf. Uralt, greisenhaft und
verängstigt.
Ein Rätsel war geboren.
Das Auffinden der »Tina Mualono« machte Schlagzeilen in
der Weltpresse. Reporter versuchten die Überlebenden zu bewegen,
davon zu erzählen, was in den letzten drei Jahrzehnten sich
ereignet hatte. Doch niemand konnte sich daran erinnern.
Das Logbuch der »Tina Mualono« ging durch die Hände
von Fachleuten und Reportern. Es fanden sich nur ganz normale,
alltägliche Eintragungen darin, die keine Geheimnisse
offenbarten.
Das Rätsel um die »Tina Mualono« konnte nie
geklärt werden. Die letzten Überlebenden traten kurz
hintereinander von der Bühne dieses Lebens ab, ohne je etwas
preisgegeben zu haben.
*
Der rote Sportwagen stand seitlich des Weges, der mitten in einen
herbstlichen Wald führte.
Der Fahrer beugte sich nach vorn, seine hübsche Begleiterin
schlang die Arme um seinen Hals. Sie küßten sich. Es war
ein kurzer Kuß.
Fröstelnd zog die Brünette mit dem Schlafzimmerblick die
Schultern hoch. Sie trug nur ein dünnes Sommerkleid.
»Verdammt«, schimpfte sie. »Warum wird’s denn
mit einem Mal so kalt? Mach das Verdeck zu!«
Sie wollte noch etwas sagen, aber ihre Stimme versagte ihr den
Dienst, und ihre Augen blickten groß und unwirklich.
»Da… da«, stammelte sie.
Der dunkelhaarige Fahrer mit der karierten Mütze kniff die
Augen zusammen und konnte nicht fassen, was er sah.
Als sie die abgelegene Stelle fanden, waren die Büsche und
Bäume dicht mit Grün bewachsen. Aber nun? Es war Sommer
geworden. Heiß und stickig war die Luft, aber angenehm hier in
der Nähe des Waldes.
Der lugendliche Fahrer schluckte. »Das… gibt es doch
nicht«, entrann es seinen Lippen. Er wollte seiner
Überraschung anderen Ausdruck geben, aber ihm fehlten in diesen
Sekunden einfach die richtigen Worte.
Er drückte einen Knopf, und das Verdeck schob sich nach
vorn.
Seine Begleiterin schlugen die Zähne zusammen, sie war
bleich. »Es war doch so heiß heute… es war ein
Sommertag, John. Wieso ist es plötzlich Herbst?«
»Ich weiß es nicht«, entgegnete er dumpf.
»Mir ist unheimlich. Komm, laß’ uns schnell hier
wegfahren!«
Es war das beste, was sie tun konnten.
Der Weg war aufgeweicht vom Regenwasser, aber es hatte doch die
ganze Zeit gar nicht geregnet.
Das Geschehen erfüllte sie mit Furcht und Ratlosigkeit, und
beides wurden nicht geringer, als sie zu Hause eintrafen. Dort zeigte
der Kalender den 16. Juli 1972. Ein Sommertag. Die Uhren standen. Sie
waren völlig abgelaufen.
Nachbarn reckten verwundert die Köpfe, als sie das junge Paar
wieder erblickten. Ein älterer Mann streckte den Kopf über
den Heckenzaun und rief hinüber: »Na, wieder zurück?
Sie waren aber lange weg.«
»Was für einen Tag haben wir denn heute?« wunderte
John Brown sich.
Licht und Wasser im Haus waren gesperrt, und die Post stapelte
sich vor der Haustür in einem Abfallkorb, da der Briefkasten die
Flut nicht mehr hatte aufnehmen können.
»Den 21.« erfuhr er.
»Den 21. – was?«
»Den 21. September. Haben Sie denn keinen Kalender?«
»Doch schon. Aber…« Er wollte noch etwas anderes
sagen, beschränkte sich aber nur noch auf eine letzte Frage.
»Welches Jahr?«
Der Nachbar schluckte. »Sie stellen aber komische Fragen,
John. Ich begreif zwar nicht, was das soll – vielleicht
üben Sie für eine neue Quiz-Serie, wer weiß. Beim
Fernsehen suchen sie ja neue Talente. Heute ist der 21. September
1974 – reicht Ihnen das?«
John Brown nickte nur. Zu einer weiteren Bemerkung war er nicht
mehr fähig, und Caroline, seine junge Frau, die hinter ihm
stand, tastete zitternd nach seiner Hand und drückte sie so
fest, als wolle sie sie nie wieder loslassen.
»Was ist denn nur passiert, John? Wir können doch nicht
zwei Jahre und zwei Monate im Wald gestanden haben?«
Sie gingen wortlos ins Haus.
Die Dinge sprachen für sich: Die Durchsagen und Zeitangaben
in Radio und Fernsehen, die neueste Tageszeitung, die John sich kurz
darauf besorgte…
Zwei Jahre und zwei Monate fehlten in ihrem Leben, und sie konnten
nie feststellen,
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