Macabros 033: Flucht in den Geistersumpf
zeigten sich zwischen
den Stämmen, und hin und wieder leuchteten große, runde
Flächen auf, die Ähnlichkeit mit Augen hatten.
Die Luft war angereichert mit etwas Geheimnisvollem,
Unerklärlichem. Zauberkräfte wirkten hier, denen sie nichts
entgegensetzen konnte.
Die Äste und Zweige bewegten sich knirschend und spreizten
sich wie riesige, unförmige Hände über ihr. Wie
Peitschenschläge hallte es durch die dräuende Luft. Die
Nebelschwaden formten sich zu gespenstischen Wesen und umflossen
sie.
Lorette Massieu konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, aber
sie begann zu laufen, so schnell sie konnte. Sie tauchte unter gierig
nach ihr greifenden Klauen hinweg, stürzte und rappelte sich
wieder auf. Der Boden unter ihren Füßen veränderte
seine Struktur. Er wurde weicher und gab nach. Die Bäume zu
beiden Seiten standen in einer schmutzigen, gurgelnden Brühe.
Die schwarzen Stämme standen nicht mehr so dicht. Man konnte
durch die Zwischenräume blicken, und dahinter erkannte Lorette
eine endlose, gewellte Ebene, auf der geisterhafte Lichter
tanzten.
Das Moor!
Die Frau dachte diesen Gedanken, und etwas Merkwürdiges
geschah. Die Bäume wichen plötzlich zurück –
wurden wie Nebel und zerflossen. Groß und weit und unheimlich
dehnte sich das gluckernde, gurgelnde Moor aus. Riesige Blasen
stiegen aus der Tiefe empor, und heiße, schwefelgelbe
Dämpfe schwebten über dem schlammigen Meer.
Lorette Massieu ballte die Hände zu Fäusten.
Ein unbestimmbares Grauen lag in der Luft.
Dieses Meer aus Schlamm, dieses Moor, das wie durch Zauberei den
ganzen Horizont einnahm und Lorette, von allen Seiten einschloß
– wo kam es mit einem Mal her? Wieso tauchte es so
plötzlich auf.
Was für eine Bedeutung hatte es?
Sie mußte daran denken, daß in diesem furchtbaren Moor
vielleicht geheimnisvolle Wesen existierten, die auf sie
lauerten.
Schnell wie ein Gedanke war sie hierher gekommen, und es war, als
hätte es auch nur dieses Gedankens bedurft, jene Wesen zu rufen,
die in dem riesigen Sumpf schlummerten.
Das Gesicht stieg steil und groß vor ihr empor.
Ein riesiger Kopf, eine grau-braune, unförmige Masse! Ein
Maul, groß wie ein Scheunentor öffnete sich und zeigte das
entsetzliche Gebiß eines Hais. Aber dieser Hai war kein Hai
– sondern ein Mensch! Strähnig und strohartig hing das
zerfranste Haar auf die breiigen, von Schlamm bedeckten Schultern und
langen Arme, die an ausgetrocknete Baumstämme erinnerten. Von
ihnen schälte sich morsch und spröde die Rinde ab, sie
streckten sich Lorette entgegen, berührten sie, und
krallenbewehrte Finger hakten sich in das feine Gewebe ihres Anzuges
und zogen sie blitzschnell nach vorn.
*
»Aaaaaghh!«
Lorette Massieus Entsetzensschrei gellte durch die
aufgewühlte Luft.
Die Halbfranzösin kippte vornüber. Alles in ihr
sträubte sich.
Sie kam gar nicht mehr zum Denken, so schnell ging alles.
Sie fühlte einen Ruck durch ihren Körper gehen. Sie
wurde von hinten gepackt und zurückgerissen. Lorette taumelte.
Hände hielten sie auf. Kleine, zarte Hände. Die Hände
einer Frau.
»Wer… wer sind Sie?« stotterte Lorette Massieu.
»Mein Name ist Carminia Brado, und ich verstehe nicht,
weshalb Sie sich in diesen Sumpf stürzen wollten.«
*
Lorette glaubte nicht richtig zu hören.
»Stürzen wollten?« wiederholte sie leise wie ein
Echo die Worte der hübschen Brasilianerin, die müde und
abgespannt aussah und doch noch immer reizvoll wirkte. »Ich
wollte mich nicht hineinstürzen… ich wurde
hineingezogen…«
»Von wem?«
Carminias Augen verengten sich.
»Dieses Unwesen, dieses schreckliche Ungetüm, das aussah
wie ein vertrockneter Mensch.«
Die Südamerikanerin kam zwei Schritte näher an den
Sumpfrand heran. »Ich laufe schon seit Stunden an diesem Moor
vorbei, und ich habe bis zu diesem Moment noch nichts Bemerkenswertes
darin entdeckt.«
Sie ließ sich von Lorette Massieu das Geschöpf in allen
Einzelheiten beschreiben. Und noch während die
Halbfranzösin redete, tauchten in der schlammigen Brühe
mehrere dieser ovalen Köpfe mit den leeren, toten Augen auf.
Entsetzt wichen die beiden Frauen zurück. Der weiche,
schwammartige Boden unter ihren Füßen schmatzte, und sie
hatten das Gefühl, als würde auch der Untergrund sich
langsam zu Sumpf verwandeln.
»Wir müssen weg hier«, kam es von den Lippen der
Brasilianerin.
»Wohin? Gibt es denn einen Ausweg?«
»Vielleicht gibt es einen. Es existiert eine Tür, die
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